Nestschmutz

oder: Das Deutsch meines Vaters oder: Mein Vater am Telefon

In dem Sommer, in dem ich aufhörte mit meinem Vater zu reden oder er mit mir oder irgendwie sowas, brach Katie Ledecky ihren eigenen olympischen Rekord im Freistil-Schwimmen. Beim Schwimmen wirkte sie, als habe sie nichts zu tun mit dem Rest der Welt, wie ein Brett lag sie in Ruhe im Wasser, musste sich kaum bewegen, als würde das Wasser sie mit sich saugen mehr als alles andere, und wie kann etwas, das so perfektioniert wurde, so leicht aussehen, während ich suchen muss nach jedem richtigen Wort und ich finde keines? Am Ende scheint es immer, Ledecky wäre alleine im Wasser, nur mit sich selbst, weil alle anderen liegen so weit zurück.

Mein Vater mochte Sport nur dann, wenn Menschen ihre körperliche Gesundheit dabei riskierten. Ich mochte Sport nur dann, wenn irgendjemand irgendwo drin am besten war. Acht Jahre vorher hatte mein Vater mir am Telefon noch erzählt, dass er den olympischen Zehnkampf gesehen hatte. Vielleicht, um irgendwas erzählen zu können. Weil wenn sie aufhörten, die Anrufe, dann war klar, da hörte einiges mehr noch auf. Diesmal erzählte er nicht, was er gesehen hatte, und ich sagte auch nichts von Katie Ledecky oder von irgendeinem neuen Rekord. Rekorde sind dann doch nur wichtig, wenn du selber sie gewinnst. Wenn du selber nicht gewinnst, dann hast du immer ein Problem, das wichtiger ist. Und bei dem du auch nicht gewinnen kannst. Ich fragte mich, wie ist es, in ein Becken zu steigen, und du weißt, gewinnen wirst du auf jeden Fall und die einzige Frage ist, besiegst du dich selbst?

Mein Handy lag vor mir auf dem Schreibtisch, daneben ein Judith Butler-Buch, John Lennon- Tasse und meine Wohnungsschlüssel. Ich spürte noch immer den Abdruck an meinem Ohr, wo ich das Handy gerade eben noch drangedrückt hatte. So heiß war es in meinem Zimmer, ich konnte noch die Schweißspuren von meinem Gesicht auf dem Display sehen, aber ich stand nicht auf, um frische Luft reinzulassen, die wäre eh genauso heiß. Vor einer Stunde und sechsunddreißig Minuten hatte ich abgenommen, und dabei hatte ich noch nicht mal von Katie Ledecky erzählt. Das war zu lange, dass es noch gelten konnte als Anruf, wie wir ihn kannten und ich hatte immer noch nicht die richtigen Wörter gefunden.

Mein Vater fand Wörter wie ‚lächerlich‘ und zischte jeden Konsonanten. Ob er sich extra Wörter sucht mit Konsonanten, Wörter die nach vorne und hinten abgeriegelt sind? Mein Vater spricht Deutsch mit jeder Silbe, weil er Angst hat, das kann die eine Silbe sein, die fehlt und dann verstehst du ihn nicht. Es war ein nachträglich gelerntes Deutsch, kein gelebtes, kein erfahrenes, keines, in das du herein geboren wirst. Das Deutsch meines Vaters war voller Angst, nicht verstanden zu werden. Jeden Buchstaben nannte er beim Namen. Das Deutsch meines Vaters trug Krawatte, Schulterpolster und Rasierwasser. Es war das Deutsch von Thomas Mann, von Volkshochschulkursen und Behördengängen. Nicht das Deutsch von Kinderspielplätzen, Zigarettenpausen und Aggro Berlin. Das Deutsch meines Vaters war so perfekt, dass ich dem kein Wort glauben konnte. Das Deutsch meines Vaters duldete keinen Anflug von Schmutz. Das Deutsch meines Vaters nahm sich selber ernst und verstand nicht, wie traurig das war. In dem Deutsch meines Vaters kam jeder zurecht, weil alles war gut ausgeschildert, aber niemand fühlte sich zuhause. So wie Katie Ledecky nie im Wasser zuhause sein wird: wenn sie aufhört mit den Armen zu rudern, dann geht sie unter. Würden das Deutsch meines Vaters und mein Deutsch sich kennen, sie würden sich nicht verstehen. Deswegen hatte ich auch nicht die richtigen Wörter für ihn.

Wenn ich drüber nachdenke, habe ich nie mit meinem Vater telefoniert. Nicht in dem Sinne, als dass er mich angerufen hatte. Meine Mutter rief mich an und gab den Hörer weiter an ihn. Jedes Mal war das so, es wäre nicht dasselbe gewesen, wäre es anders gewesen. So wie ich weiß, dass seine Mutter ihn anrief und den Hörer an seinen Vater weitergab. Wenn er mich selber angerufen hätte, vielleicht hätte ich die richtigen Wörter gefunden.

Ich weiß nicht, welche Wörter er gefunden hatte, am Telefon mit seinem Vater. Die Sprache meines Vaters hatte ich nie verstanden. Die Sprache meines Vaters hatte ich nur gehört, wenn er am Telefon war mit seinem Vater. Sein Vater hat nie Deutsch lernen wollen. Nicht mal schlecht. War ja Tätersprache. Als Kind hatte ich ihn am Telefon beobachtet, wie er sich vor meinen Augen auflöste, mit jedem Wort in dieser Sprache, die ich nicht verstand. Die Sprache meines Vaters klang, als wollte sie die Sprache seines Vaters verspotten, als würde sie versuchen noch härter und noch kälter zu sein als die. Dabei war das doch die Sprache, in der er zuhause sein sollte. Aber es klang unmöglich, dass sich jemand zuhause fühlen könnte in der Sprache meines Vaters.

Während er telefonierte, saß er da in dem Lehnstuhl, den er immer stehen hatte neben dem Telefon bei uns im Flur, als wollte er eigentlich gar nichts, außer immer bereit sein zum Telefonieren. Da saß er dann, in sich zusammengekrümmt, wie er das sonst nicht tat, als wollte er auch anders aussehen, wenn er schon anders klang. Er rollte die Kordel vom Telefon zwischen seinen Fingern auf, und wenn meine Mutter an ihm vorbeiging, dann nahm sie ihm die Kordel aus der Hand, jedes Mal. Warum? Das weiß ich nicht. Das Telefon, von dem er jetzt mit mir sprach, das hatte keine Kordel mehr. Das lag wohl auf dem Tisch, mein Vater, meine Mutter beide an einer Seite davon sich gegenüber.

Mein Vater wollte nicht, dass ich seine Sprache kannte. Er hatte Angst, ich würde hier nie zuhause sein, wenn ich sprach wie er. Was er nicht wusste: Ich würde niemals sprechen wie er. Ich hatte meine eigene Sprache und die hatte nie eine Welt verlassen müssen wie seine, die gehörte dahin, wo sie war. Meine Sprache war ein Deutsch ohne Angst. So wenig Angst hatte meine Sprache, die Sprache meines Vaters hätte mir nie weh tun können. Zumindest nicht, wenn ich sie verstanden hätte. Ich hätte in ihr ja nie zuhause sein müssen. Aber irgendwie hätte ich in seiner Sprache die richtigen Wörter gefunden.

Vielleicht wollte mein Vater nicht, dass ich seine Sprache spreche, weil es die Sprache seines Vaters war. Ich will ja auch nicht, dass irgendwer, der zu mir gehört, die Sprache kennt von meinem Vater. Deswegen kann ich kein Kind haben. Weil Hass irgendwann enden muss. Wenn es keine neue Sprache mehr gibt für ihn. „I'm not the one you want, babe / I will only let you down“, sang Bob Dylan in einer Sprache, die mein Vater gar nicht sprach und umso mehr mochte, obwohl die Konsonanten da so weich sind, dass du nicht spucken kannst beim Sprechen oder zischen oder knallen. Katie Ledecky hatte wahrscheinlich nicht das Problem, dass niemand ihr Vater sein will. Und selbst wenn, jemand, die was hat, in dem sie so sicher ist wie sie im Wasser, was braucht die einen Vater?

Natürlich stimmte nicht, was ich da erinnerte. Zum Beispiel erinnerte ich mich, dass mein Vater kleiner war als ich und das konnte ja nicht stimmen, ich war doch ein Kind. Auch nicht stimmen konnte, dass mein Vater mich ansah, nachdem er fertig war mit seinem Vater zu sprechen, mich ansah, als wollte er nicht, dass ich mal am Telefon sitze mit ihm, wie er gerade mit seinem Vater. Das hätte ich nicht erkennen können als Kind und deswegen konnte ich das auch nicht erinnern. Das hieß aber natürlich nicht, dass er mich nicht doch so angesehen haben konnte, auch ohne, dass ich es erkannte. Oder er hatte mich angesehen, ob ich dankbar war, dass er nicht sein Vater war. Oder als wäre ihm zu spät eingefallen, dass er doch nicht anders war als sein Vater, er ihn nicht losgeworden war und alles Deutschlernen, jedes Wort, das ganze Schmutzabwaschen mit diesem Deutsch, war umsonst gewesen.

Dann war mein Vater weg und es war ruhig auf der anderen Seite des Telefons. Meine Mutter versuchte anzureden gegen die Ruhe, aber sie hätte brüllen müssen, um die Lücke zu füllen. Sie hätte ihr Deutsch genauso hart und kalt von sich schleudern müssen wie er. Aber das konnte sie nicht, weil ihr Deutsch nicht ihr Feind war. Und ich war es auch nicht, vielleicht. „Es ist gut, dass wir geredet haben“, sagte sie, aber sie sagte nicht, wer ist dieses Wir. Und sie sagte auch nicht „dass wir nochmal geredet haben“. Ein letztes Mal. Eigentlich hatten wir auch nicht geredet, weil ich hatte sie ja nicht gefunden, die Wörter. Dann rief niemand mehr an und niemand gab den Hörer weiter.

Ich weiß nicht, ob das Deutsch meines Vaters Wörter hatte, die er mochte. Ich hätte sie kaum mehr mögen können, hätte ich das gewusst. Was ich immer mochte an dem Wort Nestbeschmutzer, ist, dass er Schmutz hinterlassen muss. Der Schmutz ist dann im Nest. Der Nestbeschmutzer zieht weiter, er hat dann weniger Schmutz an sich und das Nest, das Nest ist dann schmutzig von seinem Nestschmutz und vielleicht geht es nicht mehr weg.

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