Die Plattform

Hier findet ihr einen Auszug aus dem entstehenden Roman “Die Plattform” von Felix Geiser. Der Roman handelt vom aktuellen Elend des Berliner Wohnungsmarktes. Die Studentin Anna vermietet drei Wohnungen über die Plattform dauerhaft an Tourist:innen – zwar ohne Genehmigung, aber wegen mangelnder Kontrollen der Behörden hat sie nicht viel zu befürchten. Das ändert sich allerdings schlagartig, als Kralle, Peter Pogo und der Ich-Erzähler sich in eine ihrer Wohnungen einmieten – und einfach nicht mehr ausziehen.


I.

[…]

Zurück in der Wohnung bereitet sich Anna ein Müsli zu. Nachdem sie die Hälfte gegessen hat, dreht sie sich eine Kippe und geht mit ihrer Kaffee-Tasse auf den Balkon. Sie erinnert sich an die Zeiten, als sie das Balkonzimmer ihrer eigenen Wohnung phasenweise vermietet hat, nachdem sie keinen Bock mehr auf WG hatte. Indem sie eine Woche pro Monat Gäste über die Plattform beherbergte, konnte sie die Miete für die ganze Wohnung alleine bezahlen, ein Luxus, den sie danach nicht mehr aufgeben wollte. Aber die ständig wechselnden Gäste und die immer gleichen Gespräche waren ihr schnell auf die Nerven gegangen. Als eine Freundin ins Ausland zog und Anna die Hausverwaltung erstaunlich leicht davon überzeugen konnte, ihre ideale Nachmieterin zu sein, nahm alles seinen Lauf. Sie hatte genügend Freunde, die Erfahrung darin hatten, eine Wohnung mit einem schmalen Budget hip einzurichten, Berlin-chic halt.
Heraus kam das Wasserrohr-Paletten-Einerlei, das sie sich selbst heute nicht mehr in die Wohnung stellen würde, aber es schien zu wirken, die Gäste liebten die stylish furniture auf Anhieb. Außerdem konnte nicht viel kaputtgehen, wenn ohnehin nur Schrott in der Wohnung stand.
In zwei der drei Wohnungen, die sie nun verwaltet, hat sie Schlüsseltresore vor den Häusern deponiert. In der Blücherstraße traut Anna den Nachbarn nicht. Die würden sie bestimmt denunzieren, wenn sich eine Gelegenheit böte. Also wird sie ihnen so eine bestimmt nicht liefern.
Am Mittwoch bekommt sie eine merkwürdige Nachricht von Alejandra. Schlüssel war nicht in der Box. Konnte Whg nicht reinigen.
Anna ärgert sich, da das ihrer To-Do-Liste einen weiteren Punkt hinzufügt, auf den sie gut verzichten könnte. Vor der anstehenden Reise will sie ihren Bus nochmal durchchecken lassen und sie muss noch packen und Alejandra für die Tage ihrer Abwesenheit briefen. Am Wochenende steht eine Party an und sie hat mit Sera einen Stand auf dem Flohmarkt am Maybachufer gemietet. Weil sie jetzt bemerkt, dass ihr Alejandras Nachricht merkwürdig vorkommt, öffnet sie die App und sieht nach, wer zuletzt in der Wohnung war. David und seine Freunde. Sie fragt ihn in einer Nachricht, wo er den Schlüssel hinterlassen hat. In dieser Hinsicht hat sie schon vieles erlebt. Gäste haben den Schlüssel von außen im Schloss stecken lassen, verloren, oder mit auf die Heimreise genommen. Sie checkt ihren Kalender und stellt fest, dass sie frühestens am nächsten Vormittag selbst zur Wohnung fahren könnte. Das sollte ausreichen, da die nächsten Gäste erst Freitagnachmittag ankommen und Alejandra inzwischen nur noch eineinhalb Stunden braucht, um die Wohnung auf Vordermann zu bringen, eine Folge davon, dass Anna ihr irgendwann einen Pauschalbetrag für die Reinigung angeboten hat, statt einen zugegebenermaßen eher lausigen Stundenlohn zu bezahlen.
Den Tag verbringt sie zwischen Unibibliothek, wo sie versucht, sich ein weiteres Mal durch Das postmoderne Wissen zu quälen, Mittagessen mit Hannes und Sera, und dem Beantworten von Anfragen für ihre Wohnungen. Als sie fertig damit ist, bemerkt sie, dass David noch immer nicht geantwortet hat. Nun wächst die Unruhe in ihr ein wenig, aber es könnte dafür tausend unproblematische Gründe geben, sagt sie sich.
Am nächsten Morgen skippt Anna ihr Frühstück, um es früher zur Wohnung in Neukölln zu schaffen. Sie schlüpft in ihre geliebten Miista-Boots und entscheidet sich, weil es nach Regen aussieht, ein Taxi zu nehmen. Als sie ankommt, checkt sie der Vollständigkeit halber zunächst noch einmal den Schlüsseltresor. Aber er ist – wie zu erwarten – leer. Sie schüttelt den Kopf, kramt den Zweitschlüssel aus ihrem FREITAG-Rucksack und beginnt den Aufstieg im Treppenhaus. Vor der Tür atmet sie lange durch den Mund aus, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckt.

II.

Am Tag der Aktion hole ich das Auto von Nene ab. Wir könnten es bis zum Wochenende behalten, sagt sie, dann will sie selbst zum See fahren. Ich bedanke mich bei ihr mit einer Umarmung und ringe ihr das Versprechen ab, uns bald zu besuchen. Ich lasse die Karre an und fahre erst zu der WG im Wrangelkiez, in der Peter Pogo gerade abgestiegen ist und wir laden die Werkzeuge, Ketten, Bolzen und den Rest der Materialien ein. Am Ende helfe ich ihm mit seinem Gepäck. Neben einem großen Wanderrucksack und einer kniehohen Schefflera gibt es eine Kiste mit Cyberpunk-Comics und Büchern, Zeitschriften zu verschiedenen Informatik-Themen, Yumyum-Suppen und anderem Kleinkram zu tragen. Peter Pogo macht einen nervösen Eindruck und prüft jede Kiste und jeden Beutel nochmal, um nachzusehen, ob er auch sicher nichts vergessen hat. Während er durch die Sachen geht, stehe ich ans Auto gelehnt da und rauche. Als er nach einer halben Ewigkeit endlich den Kofferraum zumacht und seine Brille zurechtrückt, schnipse ich die Kippe weg und öffne die Fahrertür. 
Gemeinsam fahren wir Kralle bei ihrer Schwester am Gleisdreieck abholen. […] Kralle umarmt ihre Schwester zum Abschied und die nickt uns anerkennend zu: „Ich drück euch die Daumen und finde richtig korrekt, dass ihr das macht.“ Du hast leicht Reden mit deinem 12 Jahre alten Mietvertrag, denke ich, verabschiede mich aber, indem ich leicht theatralisch winke. Im Auto sitzen wir erst schweigend, bis Kralle, die auf dem Beifahrersitz neben mir hockt und Peter Pogo nach hinten verbannt hat, anfängt, sich am Autoradio zu schaffen zu machen. „Weißt du, wie ich mein Handy verbinde? Da muss doch irgendwo ein Kabel liegen, guck mal neben dir.“ Ich greife in die Ablageschale, die in die Tür eingelassen ist. Nachdem meine Hand irgendetwas Klebriges berührt und ich sie eigentlich nur zurückziehen will, ertaste ich tatsächlich ein Kabel. Kralle hängt ihr Telefon an die Anlage und kurz darauf dröhnen die Skeptiker aus den Boxen.
Ich drifte ab und bin gedanklich wieder bei unserer Recherche. Ich allein habe wahrscheinlich hunderte Inserate und Profile gescannt und tausende Reviews gelesen. Und die anderen haben es mir gleichgetan. Am Ende der Recherche blieben sieben potenziell in Frage kommende Kandidaten übrig. Dann hieß es, Informationen sammeln. Dafür begannen wir, die Hosts und ihre Wohnungen zu beobachten. Manchmal ließ sich über den Buchungskalender nachvollziehen, zu welchen Zeitpunkten es eine Schlüsselübergabe geben müsste und manchmal schrieben wir die Leute einfach an, natürlich mit Fake-Accounts.
So oder so haben wir bald herausgefunden, dass der Banker einen Lakaien hatte, der zu jeder Schlüsselübergabe kam und die Kontrollen sehr ernst zu nehmen schien. Die Oma, so hatten wir die ältere Frau getauft, wusch ihre Wäsche in der Wohnung, die sie vermietete, vielleicht, um sich auf diese Weise eine Waschmaschine zu sparen. Zwei der anderen Apartments waren videoüberwacht und so war die Auswahl der in Frage kommenden Objekte immer weiter geschrumpft. Die Wohnung in Neukölln erfüllte schließlich nahezu alle Kriterien. Sie ist ausreichend groß, die Schlüsselübergabe erfolgt stets über einen Tresor und sogar die Nachbarn scheinen größtenteils sympathisch und würden uns vielleicht sogar in die Karten spielen.
Das Anlegen eines Fake-Accounts ist leider nicht mehr so einfach möglich, seit die Plattform die Authentifizierung per Video-Chat fordert. Unmöglich ist es deshalb aber noch lange nicht. Alles, was man braucht, ist ein gut gefälschtes Ausweisdokument (paar hundert Euro im Darknet) und starke Nerven. […] Die weiteren Vorbereitungen bestanden darin, die richtigen Werkzeuge und Materialien zu besorgen und die Nachbarschaften auszukundschaften, also sowohl die der Wohnung als auch jene ihrer Vermieterin. […]
Neben dem Auskundschaften der Nachbarschaft führten wir vor allem Gespräche. Gespräche darüber, warum wir das alles machen, über den potenziellen Umgang mit Polizei und Gewaltandrohungen, über die Zukunft des Projekts, über Sauberkeitsvorstellungen und Regeln des Zusammenlebens, über Ess- und Schlafgewohnheiten, Musikgeschmack und das Rauchen in der Wohnung. Während Peter Pogo und ich uns schon seit einigen Jahren von einem Punkrock-Tresen und vom Abhängen in denselben Hausprojekten kennen, ist Kralle erst vor einigen Monaten zu uns gestoßen. Doch auch, wenn ich Peter Pogo schon länger kenne, kommt er mir trotzdem oft noch vor wie eine Blackbox.
Kralle haben wir bei einem Absturz in der Kneipe kennengelernt und schnell war klar, dass die Ohnmacht, die wir gegenüber den fatalen Entwicklungen unserer Stadt spürten, uns verband. Sowohl Peter Pogo als auch ich konnten ihrer großkotzigen Art einiges abgewinnen und als der Plan für unsere Aktion reifte, beschlossen wir, dass wir uns besser kennenlernen müssten. Deshalb die vielen Gespräche. Peter Pogo überzeugte uns sogar davon, in Konfliktspielen potenzielle Streitthemen zu behandeln, bevor diese uns tatsächlich beschäftigten. Das fühlte sich immer ein bisschen schräg an – wir sind offenbar alle drei nicht so besonders begabte Schauspieler – aber irgendwie gab es uns trotzdem das Gefühl, gut vorbereitet zu sein. An uns, da waren wir alle drei ausnahmsweise mal einig, dürfte diese Aktion nicht scheitern.

Der Code öffnet problemlos den kleinen, schwarzen Kasten, in dem sich ein Bund mit nur zwei Schlüsseln befindet. Aus der Buchungsbestätigung wissen wir, dass wir in den dritten Stock rechts müssen. In der Wohnung ist kein eigentümlicher Geruch wahrzunehmen, als wir eintreten. Vielleicht ein Hauch Putzmittel mit Zitronenaroma. Kralle pfeift leise durch die Zähne, als wir uns in der Bude umsehen. Es handelt sich um einen typischen Neuköllner Altbau aus der Gründerzeit. Eine Wohnung also, für die unzählige Menschen, die schon seit Monaten oder gar Jahren auf Wohnungssuche sind, eine Niere verkaufen würden. Vom Flur geht links ein Badezimmer ab und dann das erste Schlafzimmer. Beide gehen zur Straße raus. Rechts, auf der Seite des Innenhofs liegt erst die Küche und dann, ganz am Ende des langgezogenen Flurs die Tür zum Berliner Zimmer, welches das Vordergebäude mit dem Seitenflügel verbindet. Dieses ist mit einem kreisrunden, grauen Teppich und einem DDR-Sofa in knalligem Gelb eingerichtet, das exakt so runtergerockt ist, dass es noch gerade so als shaby chic durchgeht. An der Wand sind Regale angebracht und mit ein paar Vasen und anderem Plunder bestückt. Hinter dem Berliner Zimmer liegt ein weiteres Schlafzimmer, zumindest ist das die Belegung, die die Vermieterin vorgibt. Abgesehen von Küche und Bad ist die gesamte Wohnung mit abgezogenen Holzdielen ausgestattet. An den Zwischenräumen zu den Seitenleisten kann man sehen, dass die Dielen einmal taubenblau lackiert waren. Der Küchenboden ist mit Fließen im Schachbrettmuster gefliest und die Arbeitsplatte und Unterschränke bestehen aus Multiplexplatten und sind offenbar im Eigenbau entstanden. Auffällig ist der golden angesprühte Kühlschank. Dank des großen Keramik-Spülbeckens sieht die Küche trotzdem schick aus. Das Bad ist mit kleinen weißen Quadraten gekachelt, zwischen denen sich schwarze Fugen entlangziehen. Der Vibe liegt irgendwo zwischen Pop-Up-Bar und Metzgerei. Alles an dieser Wohnung – die Kleiderstangen aus Kupferrohren, die Palettenmöbel und die Weinkisten – will hip sein. Doch gerade diese Pseudohipness finde ich zum Kotzen. Kralle und Peter Pogo geht es da ähnlich wie mir. Kralle ist allerdings richtig aus dem Häuschen, als sie den Balkon entdeckt, der vom ersten Schlafzimmer zur Straße hin abgeht. Peter Pogo beginnt bereits, sich das Schloss anzusehen, nachdem er geprüft hat, ob es möglich ist, über den Balkon in die Wohnung einzusteigen. Ich beginne mich mit Kralle um die Belegung der Zimmer zu zanken. Natürlich wollen wir beide das Balkonzimmer. Auf meinen Vorschlag, zu losen, geht sie gar nicht erst ein. Sie überhäuft mich mit Argumenten wie ihrer Klaustrophobie und einer angeblichen Hausstauballergie, wegen der sie dringend eine Möglichkeit braucht, Frischluft zu atmen. „Willst du mir gerade ernsthaft den Neuköllner Smog als Frischluft verkaufen?“ frage ich Kralle und merke, wie mein herausforderndes Grinsen sie erst richtig auf Touren bringt. „Ich brauche wirklich ein Zimmer für mich. Meine Laune am Morgen wollt ihr sicher nicht in eurem Wohnzimmer haben und bei dem Schummerlicht im hinteren Zimmer werde ich sofort depressiv!“ So geht es noch eine ganze Weile hin und her zwischen uns, bis ich mich irgendwann geschlagen gebe, weil Patriarchat und so. Kralle bezieht also das Balkonzimmer und ich mache mich im hinteren Zimmer, das an das Berliner Zimmer anschließt, breit. Peter Pogo nimmt ohne größere Diskussionen mit dem Sofa im Berliner Zimmer vorlieb, er wolle sowieso möglichst nah an der Wohnungstür schlafen, für den Notfall, wie er sagt.

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