mexicanstandlove

Ich bin einigermaßen traurig, jetzt, wo Max und ich uns getrennt haben. Er hat mich per Telefon verlassen, weil er gerade ein Semester im Ausland verbringt, er hat geweint und ich weiß nicht, ob er es ehrlich meinte. Jedenfalls flüsterte er, dass er das nicht mehr könne mit der Fernbeziehung, telefonieren scheiße, tagelang nichts voneinander hören scheiße, sich nicht berühren können scheiße, Flüge buchen, um beieinander zu sein, auch scheiße. Ich hielt mein Handy ans Ohr und nickte, erwiderte nichts, denn er hatte ja recht. Wie schön du es dir auch redest, dass man sich wieder zu vermissen lernt, dass man sich vielleicht nochmal ganz neu verliebt, dass beide wieder als Individuen durchs Leben gehen und nicht als Paar, obwohl man als Paar an der Herausforderung wächst: Fernbeziehung scheiße. „Pass auf dich auf“, sagte Max und legte auf.

Ein paar Tage später – krankgeschrieben, obwohl mittelschwerer Liebeskummer wohl keine ordentliche Diagnose ist – liege ich käferhaft in meinem Bett und verliere Stunden an TikTok. Jungs, die ihren Freunden Kohl an die Köpfe werfen und dann laut ‚PRAAAANK‘ schreien, Modetipps von einem anzugtragenden Mann in seinen Dreißigern, dass die Maxime ‚No Brown in Town‘ schon lange nicht mehr gelte und man deshalb im Office klar auch braune Schuhe tragen könne, ein Rapbattle zwischen einem Jugendlichen mit Vokuhila und der militanten Veganerin, die ihren Kontrahenten – Zitat aus der Videounterschrift – ‚durch den Fleischwolf‘ dreht. Der Impuls, auch ein Video zu posten, ist im Rückblick betrachtet wohl das Resultat der psychologischen Notwendigkeit, selbst etwas von mir preiszugeben, wo ich schon tagelang in die intimsten Sphären anderer gespannt habe. Es fühlt sich falsch an, alles zu sehen und nichts zu zeigen. Vielleicht will ich aber auch etwas anderes. Vielleicht will ich einfach mit irgendjemandem in Kontakt treten, ob übers Handy oder im echten Leben, ist irgendwie egal.

Wenn es mir schlecht geht, sind alte Westernfilme meine besten Freunde, weil die Welten, die sie entwerfen, so wunderbar einfach sind, so geordnet. Schieß‘ oder werde erschossen. Reite davon oder geh‘ mit deiner Stadt unter. Schließe Freundschaften mit Menschen, die du nicht verstehst, oder bleibe auf ewig ihr Feind. Deshalb wird die finale Schießerei aus The Good, the Bad and the Ugly, in der sich die drei Hauptfiguren gegenüberstehen, zu meinem Videohintergrund, darüber lege ich drei gemeinfreie Gitarrenakkorde, die Indie klingen und damit zumindest ein wenig zum Pathos der Bilder passen, und lasse einen kurzen Text über den Clip schweben: I feel like a Westerner in a Mexican Standoff. If I ask him to take me back, I get hurt. If I try to forget him, I get hurt too. One way or another, I’m going to catch a bullet #mexicanstandlove. Dann schaue ich noch etwa vier Dutzend Videos und gehe ins Bett.
 

Montag, 1.009 Views

Menschen mögen mein Video und das freut mich. Ein Kommentar von kimchibeste ist besonders süß: „Hey du, endlich noch eine Person, die alte Western liebt! Habe die früher immer mit meinem Opa geschaut. Ich hoffe, es geht dir bald wieder besser!“
 

Dienstag, 6.382 Views

Ich habe schon ein paar Videos auf TikTok gepostet, in denen ich zeige, was ich esse, welche Länder ich mit Max besuche und wie ich mit dem Hund meiner Eltern kuschle. Keines hat mehr als ein- oder zweitausend Leute interessiert, warum auch? Alle essen, die meisten Leute fahren irgendwo hin, um sich irgendetwas anzuschauen, und Tiere besitzen genauso viele. Schönster Kommentar, heute von Miesebiene: „Liebe ist wie eine Fessel an deinem Fuß und an dieser Fessel hängt ein Stein und vor dir ist ein klarer, kühler See und du willst hineinspringen, aber es wäre das letzte, was du tust.“

Mittwoch, 26.019 Views

Hier läuft etwas schief. Ich habe eine DM erhalten, von einem Fremden. Er fragt, was er tun könne, damit mein Liebeskummer aufhört, ob er vorbeikommen und mir etwas kochen solle. Ich entscheide mich, nicht zu antworten. Gegen Nachmittag dann eine weitere Nachricht in meinem privaten Postfach. Ein anderer Fremder, aber er hat über 500.000 Follower, schreibt, dass er mein Video geteilt habe: „Ich finde es so krass berührend, wie offen und authentisch du mit negativen Gefühlen umgehst. Deshalb wollte ich dich pushen! Hoffe, das war in Ordnung!“


Donnerstag, 403.210 Views

Ich schaffe es nicht mehr, die ganzen Nachrichten zu lesen. linusbender schickt nur ein Daumen-hoch-Emoji, aber tantebesseresser verfasst ungefähr achtzig Zeilen, in denen er oder sie ein ganzes Leben in meinem Postfach ausbreitet. Ich schicke ein Herz-Emoji zurück, Linus Bender antworte ich nicht. Mein Daumen tut weh. Der Fremde ohne Follower schreibt, warum ich ihm nicht antworte, und nennt mich eine Bitch.

Freitag, 962.320 Views

„Liebe Trudi, wir sind Melina und Tim vom Podcast SuperMind, in dem wir Themen rund um mentale Gesundheit, psychische Resilienz und Lifestyle besprechen. Kurzum: Wir lieben dein Video! Wir lieben deine Offenheit und Authentizität und deine besondere Art, schwere Themen leicht zu verpacken. Deshalb möchten wir dich gerne fragen, ob du nicht Lust hast, als Gast in unserer neuen Folge aufzutreten. Es wird um – drei Mal darfst du raten – Liebeskummer und toxische Beziehungen gehen. Ein Honorar können wir dir leider nicht bezahlen.“

Der Absender einer anderen Nachricht muss mich vorher gegoogelt haben, er kennt meinen echten Namen: „Liebe Frau Traut, Psychology major ist die größte Netzwerkplattform für psychische Gesundheit in ganz Deutschland. Wir vernetzen Betroffene, verbreiten Informationen und klären auf. Genauso wie Sie. Ihr Video hat uns aufgrund seines offenen und authentischen Zugangs zum Thema tief bewegt. Sollten Sie in Zukunft weiteren Content dieser Art planen, melden Sie sich gerne bei uns. Wir sind immer auf der Suche nach neuen Talenten, die mit uns zusammenarbeiten, um anderen zu helfen. Weil Sie neu sind, bieten wir im Falle einer Werbekooperation einen Tausender-Kontakt-Preis von bis zu 2,5€.“ Ich muss Tausender-Kontakt-Preis googeln und finde heraus, dass ich mit meinem Video ohne Werbung knapp fünfzig Euro verdient habe. Das ist schon okay, wenn man bedenkt, dass ich ungefähr zwanzig Minuten Zeit reingesteckt habe. Die Leute von Psychology major bieten fast 3.000 Euro.

Samstag, 1.402.854 Views

Ein junger Mann, der laut Profilbeschreibung in Großbritannien lebt, hat Mexican Stand Love auf ein T-Shirt drucken lassen und filmt sich selbst dabei, wie er Menschen in einer Straßenbahn umarmt. Eine weniger junge Frau hat sich Sporenstiefel und einen Lederhut angezogen und wirft mit Papierherzen um sich, dabei ruft sie immer wieder Mexicanstandlove in die Kamera. Ein noch weniger junger Mann fährt sich durch das kurz geschorene, graue Haar und schüttelt den Kopf. „Wenn du die Welt nicht mehr verstehst“, steht unter dem Video, „#mexicanstandlove.“ Ich erhalte noch zwei DM’s mit Kooperationsangeboten, auf die ich nicht reagiere, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, SuperMinds und Psychology major mein Interesse zu signalisieren. Wie antwortet man auf sowas?

Sonntag, 1.598.142 Views

Psychology major meldet sich keine zwölf Stunden, nachdem ich ihnen geschrieben habe, dass ich gerne noch ein Video produziere und dabei auf ihr Angebot hinweise: „Haben Sie vielen Dank, Frau Traut! Wir freuen uns, wenn Sie morgen, spätestens übermorgen neuen Content hochladen, damit Sie noch auf unsere zeitlich begrenzte Aktion hinweisen können, eine gratis online Session mit unserem besten Coach bei jedem angeschlossenen Abo! Im Anhang finden Sie einen Link, der alle relevanten Informationen enthält.“ Ich will nicht noch einen Western nehmen, deshalb recherchiere ich, wo ein Mexican Standoff sonst vorkommt, und stoße auf Reservoir Dogs von Tarantino. Den Film fand ich auch ziemlich gut, also lege ich Musik darüber, dieses Mal Lofi Hip-Hop, weil das besser zum Gangster-Thema passt, und schreibe: There is a way out of #mexicanstandlove: self-love and the services of #psychologymajor.


Montag

Das Tarantino-Video hat 3.765 Views. Die wenigen Kommentare, die es gibt, sind ziemlich gemein. Dass ich meine „Seele verkauft“ habe, ist noch das netteste, „Kapitalistenhure“ bewegt sich im Mittelfeld. Psychology major schreibt, dass sie mir 8 Euro überweisen, von weiteren Kooperationen aber absehen möchten. In der Nachricht von SuperMind heißt es, dass man schon jemand anderen gefunden habe: „Wir wünschen dir alles Gute. Pass auf dich auf!“ Sonst keine DM’s. Ich bin einigermaßen traurig.

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Nestschmutz