Ein schattiges Plätzchen – Neunlinden, 1992

Jeden Morgen, bevor er seine Schanne schultert und sich zum Brunnen aufmacht, besorgt sich Cheng San etwas Sonnenlicht. Obwohl er tief im Inneren von Neunlinden lebt, hat er nahe seiner Wohnparzelle einen Quell ausfindig gemacht. In einem aufgebrochenen Installationsschacht. Da das Licht diesen Ort nicht gewohnt ist, weiß es nicht recht, wie es sich verhalten soll. Es fließt eher, als dass es strahlt, tröpfelt aus provisorischen Wasserleitungen, sammelt sich als schwammig konturierter Fleck am Boden des Schachts. Cheng San schöpft es mit einem leeren Parfumflakon heraus. Einem Pröbchen Hugo Boss. Ich rieche weißen Moschos, während ich darauf warte, dass er sein Ritual beendet.

Neunlinden ist eine Anomalie. Eine chinesische Exklave inmitten der britischen Kolonie Hongkong; ein blinder Fleck, den beide Regierungen lange Zeit ignorierten. Über fünfzig Jahre hinweg wucherte dieser Ort unkontrolliert zu dem heran, was er heute ist: Ein massiver, zusammenhängender Komplex vierzehnstöckiger Hochhäuser, durchzogen von einem wirren Geflecht labyrinthischer Gänge. Steuerfreiheit und geringe Mieten zogen nach dem zweiten Weltkrieg vor allem chinesische Flüchtlinge in die Stadt, die damals noch unter der Kontrolle der Triaden stand. Wenn der Platz knapp wurde, baute man einfach weiter in die Höhe und nun ist Neunlinden mit dreiunddreißigtausend Bewohnern auf zweieinhalb Hektar der am dichtesten besiedelte Ort der Welt.

Namen hat der Komplex viele. Kowloon Walled City. Hak Nam Zi Sing. City of Darkness. Da mir keiner von ihnen sonderlich passend erscheint, habe ich mir etwas Übersetzungsfreiraum genommen, etymologische Wurzeln umgetopft und einen eigenen gefunden. Man muss ja nicht immer alles beim Namen nennen.

Cheng San ist einer der letzten seiner Art: ein Wasserträger. Seit den 50er Jahren lebt er in Neunlinden und seit Mitte der Sechziger geht er seinem heutigen Beruf nach. Damals war die Wasserversorgung dieses Ortes weitaus prekärer als heute; fünf Standrohre mit Handpumpen für die gesamte Bewohnerschaft, allesamt außerhalb der Stadtgrenzen. Viele junge Männer verdienten sich zwölf bis fünfzehn Hongkong-Dollar im Monat damit, täglich sechs Kerosinkanister Wasser in Wohnungen oder Betriebe von Neunlinden zu schleppen. Cheng San tut es auch heute noch, obwohl kaum noch Bedarf besteht. Wer ihn beauftragt, tut dies selten aus Not, meistens aus Mitleid oder verklärter Nostalgie. Was Cheng San zu tun gedenkt, wenn sie Neunlinden nächstes Jahr abreißen werden, frage ich nur mich, denn ihn zu fragen traue ich mich nicht.

Über drei Jahrzehnte Erfahrung sieht man ihm an: Er trägt das Wasser mittlerweile mithilfe einer langen, hölzernen Tragestange. Dān zhàng sagt er dazu, oder so, ich kenne sie als Schanne oder Dracht. Die in Stoff eingewickelte Mitte der Stange legt er je nach Bedarf über eine Schulter oder in den Nacken. An ihren Enden baumeln Eimer, Fässer fast, in denen hölzerne Kreuze dafür sorgen, dass niemals auch nur ein Tropfen überschwappt. Sie schmiegen sich sachte an die Wasseroberfläche. Manchmal kann ich hören, wie sie ihr beruhigende Dinge zuflüstern.

Jeden Tag begleite ich Cheng San auf seinen Wegen durch Neunlinden. Er geht vor, ich trotte hinterher. Er trägt Wasser, ich trage keins. Für sein Alter ist er robust gebaut. Egal, wie viel Liter Wasser er schultert, sein Joch trägt er leichtfüßig und aufrecht. In seinem Windschatten kann ich die Innenarchitektur bestaunen, ohne dabei verloren zu gehen. Es ist, als hätte jemand die Straßen einer Großstadt mit all ihren Reklameschildern, all ihrem Schmutz und Unrat in dieses enge Geflecht aus Gängen und Gassen verfrachtet. Chinesische, mir unverständliche Lettern preisen Geschäfte an: Krämerläden, Apotheken, kleine Fabriken für Teigwaren, Metzgereien, dazwischen, darüber und darunter unzählige Wohnparzellen, eng an eng, wie Bienenwaben. Neunlinden bietet seinen Bewohnern alles, was das Herz begehrt, man muss nur wissen, welche verschlungene Treppe man besteigen, über welchen schmalen Steg man balancieren, an welcher Tür man klopfen muss.

Nach der Arbeit begeben wir uns jeden Abend ins gemeinschaftliche Zentrum, einen Innenhof, in dem Licht tatsächlich strahlt, nicht tröpfelt. Hier betrinken wir uns in einem von etlichen kleinen Lokalen, schlagen uns die Bäuche mit Speisen voll, die es weder draußen in Hongkong noch irgendwo sonst gibt, und verlieren absurde Summen beim Würfeln. Irgendwann sitzen wir dann auf einem der vielen Balkone und schauen dem Treiben im Hof zu. Cheng San, ich, und ein paar Flaschen Bier. Schweigend, da wir uns nichts zu sagen haben, das wir verstehen würden. Es sind diese Momente, in denen mir klar wird, dass diese City gar nicht so dark ist, wie einen ihr wahrer Name glauben machen will, nicht mal düster eigentlich, sondern schattig, allerhöchstens.

Am letzten Abend meines Aufenthalts genehmige ich mir auf einem der Flachdächer mit Cheng San eine Raucherpause, dabei rauche ich gar nicht und wir hatten auch gar nichts getan, von dem wir eine Pause gebraucht hätten. Wir stehen da, auf ein quietschendes Geländer gelehnt, und blicken auf die anderen Dächer. Manche der verzerrten Rechtecke sind Baustellen, manche gemeinschaftliche Plätze, manche gleichen Müllhalden, überladen mit ausrangierten Möbeln, Säcken und Elektroschrott. Die Rauchwolken, die wir in die kühle Abendluft blasen, verklären hin und wieder diese spektakuläre Aussicht.

Unsere Zigaretten mögen bis zur Hälfte runtergebrannt sein, als Cheng San auf einmal zu reden anfängt. Seine Stimme klingt sanft, aber bestimmt, er scheint mir von Dingen zu erzählen, die ihm wichtig sind, von wahrhaftigen, elementaren Dingen, doch genau kann ich das nicht sagen, schließlich spreche ich kein Kantonesisch. Ich lausche ihm trotzdem, versuche allein durch den Klang der Laute, den Rhythmus seines Sprechens, den Ton seiner Stimme zu erschließen, was er mir mitzuteilen versucht, und obwohl ich absolut keine Ahnung habe, wovon er redet, habe ich doch das Gefühl, ihn am Ende seiner Rede besser zu kennen als zuvor. Ich lächle und nicke. Er klopft mir lachend auf die Schulter. Wir schnippen unsere Zigarettenstummel über das Geländer und schauen ihnen hinterher, diesen kleinen glühenden Punkten, wie sie im Abgrund verschwinden.

Etwas später stehe ich im Türrahmen einer kleinen Nudelfabrik. Hier hat es, so scheint es auf den ersten Blick, geschneit. Dabei ist es Sommer. Die gesamte Einrichtung, die Schränke und Arbeitsplatten, die Nudelhölzer und Kanister, ja selbst das alte Telefon mit Wählscheibe auf dem Schreibtisch, alles ist mit einer pulvrigen, weißen Schicht bedeckt. Das Mehl der letzten Wochen, Monate, Jahre, vielleicht auch äonenaltes Urmehl aus düsterer Vorzeit, wer weiß das schon. Sie bietet ein ungemein friedvolles Bild, diese gemahlene Winterlandschaft. Ich krame meine Polaroid hervor, um sie festzuhalten, als mich plötzlich jemand von der Seite auf Englisch anspricht.

So, you’re that other guy, eh?

Ein weißer Mann mit Brille und nassgeschwitztem Hemd steht neben mir und versprüht einen leichten Geruch von Maple Syrup, ist also vermutlich Kanadier. Er streckt mir die Hand hin und ich drücke sie, ein wenig zu leicht.

Greg, sagt er.

Leo, sage ich, und versuche dabei überzeugend zu klingen.

Greg erzählt, er hätte in letzter Zeit schon häufiger gehört, dass ein Kollege durch Neunlinden zöge, und habe sich vorstellen wollen. Er arbeite mit seinem Freund Ian an einem umfangreichen Bildband über die Stadt, der nächstes Jahr bei Ernst & Sohn erscheinen werde. Einen solch faszinierenden Ort wie diesen müsse man doch für die Nachwelt konservieren. Für wen ich denn schreibe, fragt er und erwischt mich damit kalt. Ich schwafle etwas davon, dass schreiben und reisen für mich untrennbar miteinander verbunden seien, dass ich gar nicht hier sein könnte, wenn ich nicht darüber schriebe, es für meine Reise, ja sogar meine Existenz unabdingbar sei, dass dieser Text geschrieben wird; kurzgefasst: Ich weiche seiner Frage aus. Hastig schieße ich ein Foto von der Winterlandschaft, wobei ein höhnischer Windstoß eine Mehlwolke direkt vor meine Polaroid wirbelt. Ohne einen zweiten Versuch zu wagen, verabschiede ich mich, höre noch beim Weggehen Gregs Kamera aufblitzen und das Bild machen, das ich hatte machen wollen.

Das Foto, das sich wenig später aus meiner Polaroid schiebt, zeigt nichts als einen Schneesturm.

Am nächsten Morgen verabschiede ich mich von Cheng San. Wir stehen im östlichen Ausgang von Neunlinden in einem Strom ein- und ausziehender Menschen und umarmen uns, schultern die Schanne kurzzeitig gemeinsam. Ich nehme all meinen Mut zusammen und frage ihn, was sein Plan sei, wenn die Stadt in ein paar Monaten geräumt und abgerissen wird. Er lächelt mich verständnislos an. Er spricht schließlich kein Englisch. Er drückt mir nur einen Parfumflakon in die Hand, ein leuchtendes Pröbchen Hugo Boss, und ich bedanke mich bei ihm für das Sonnenlicht.


Leo Lemke ist ein Literatur und Code schreibender Kölner. Seine phantastischen Texte und Reiseberichte mit fragwürdigem Wahrheitsgehalt wurden in diversen Literaturmagazinen veröffentlicht (u. a. Mosaik, GYM, absolut-zine). Wenn er nicht selbst schreibt oder liest, veranstaltet er als Teil des Moderationsteams das Literaturformat MIT ANDEREN WORTEN

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