In deinen Armen all die Dinge
Auszug ausgewählt für die zerlesebühne #3
Das ist jetzt so, dass ich in der Wohnung von Neil stehe und darauf warte, dass er im Bad fertig wird. Über Neil muss man wissen, dass er sowas wie mein bester Freund ist. Das heißt, er ist nicht wirklich mein bester Freund, weil er so viele Drogen nimmt, aber wenn ich so etwas wie einen besten Freund hätte, dann wäre das wohl Neil.
Das Großartige an Neil ist, dass man ihn auch anrufen kann, wenn man mal wieder betrunken ist und weinen muss, aber das gerade nicht geht, weil man auf der Arbeit ist oder mitten im REWE steht. Wenn ich ihn anrufe, weiß er natürlich sofort, dass ich getrunken habe, aber er sagt dann nie was dazu, weil ihm klar ist, dass mir das echt peinlich ist, und das finde ich schon sehr taktvoll. Stattdessen sagt er immer so Sachen wie: „Wenn du jemanden zum Reden brauchst, kannst du dich immer bei mir melden.“ Und das ist natürlich richtig bescheuert, weil wir ja gerade miteinander telefonieren, Neil und ich, und er ja auch weiß, dass ich ihn nur anrufe, weil ich wegen der Sache mal wieder getrunken habe. Ich bin ihm aber nicht böse deswegen oder so. Er meint es ja alles sehr, sehr taktvoll.
Meine Casio zeigt mir schon 23:05 Uhr an und ich hämmere drei Mal gegen die Badezimmertür. Ein Hä und ein Ah ja, und das Patschen nackter Füße auf Keramik. Er muss dann gegen irgendetwas gestoßen sein, denn plötzlich ist da ein Schlag, dumpf, wohl gegen Holz, und man hört Glas, das auf dem Badezimmerboden zerbricht.
Kurzes Schweigen. Sicher Scham. Dann „Scheiße“, aber gemurmelt. Schließlich Ktick, aber leise, und die Badezimmertür öffnet sich einen Spalt breit und Neil grinst ganz dämlich und jetzt weiß ich, dass er wieder was genommen hat, aber ich halte natürlich die Klappe.
Neil fragt mich, ob ich auf Toilette muss, und nachdem wir uns eine Weile lang angestarrt haben, machen wir uns schließlich auf den Weg. Wir legen dann noch einen Zwischenstopp beim Späti um die Ecke ein, um uns zwei, drei Bier und Kippen zu kaufen, und setzen uns auf irgendeine Bordsteinkante. Ich zünde mir eine an und Neil zündet sich auch eine an und er beginnt, über Karl Lauterbach und die Cannabis-Legalisierung zu reden, doch ich höre ihm nicht richtig zu. Ich muss an den Tag denken, an dem du mich nicht küssen wolltest, weil ich mal wieder heimlich geraucht habe und daran, dass du das Argument, dass an der Uni alle rauchen, nicht zählen lassen wolltest. Mir schien das immer relativ überzeugend, das Argument. Trotzdem habe ich dann zwei Jahre lang keine Zigarette angefasst. Auch nicht heimlich. Selbst dann nicht, wenn ich getrunken habe.
Wir erreichen den Asiord schließlich um Viertel vor zwölf. Beim Asiord, das muss man wissen, handelt es sich um eines dieser pseudolinken Etablissements im Parterre eines hälftig entstuckten Altbaus, scheinbar szeneecht mit Bierzeltgarnitur zum Draußensitzen und graffitiertem Bossenwerk. Je nach Tageszeit kann der Asiord Café, Bar oder Club sein, wie das bei diesen linken Läden halt so ist, und na klar, finde ich das auch echt super. Mein Problem mit dem Laden ist nur, dass man die Gebäude daneben vor ein paar Jahren alle kernsaniert hat, und das jetzt nicht mehr passt, der schäbige Asiord und die Pilaster und die Balustraden und die streng dreinblickenden Maskarons drumherum.
Einmal hat mir einer gesagt, dass die Besitzer vom Asiord früher mal Autonome waren, die das Haus, in dem heute der Asiord drin ist, direkt nach der Wende besetzt hielten. Die Polizei wollte dann das Gebäude räumen lassen, aber das ging nicht, weil die nicht zuständig waren, und die Ost-Polizei war auch nicht zuständig, und dann gab’s ’ne Demo und am Ende haben die Autonomen mit der Stadt oder der Bundesrepublik einen Vertrag geschlossen und die Autonomen haben dann halt den Asiord aufgemacht. Heute beschweren die sich aber, weil sich die Politiker und die Start-up-Heinis wochentags keine zwanzig Sternburg hinters Business Casual kloppen, und sie deshalb die Security feuern mussten. Aber wenn man mich fragt, hat die Gentrifizierung so auch etwas Gutes, denn wer Flat White für acht Euro verkauft, der ist eigentlich gar kein Autonomer mehr, sondern selbst ein dreckiges Kapitalistenschwein, und ich denke, man kann sie ruhig alle bestrafen deswegen. Aber nur, wenn man mich fragt, natürlich.
Jedenfalls ist da jetzt vor dem Asiord eine Schlange, mindestens vierzig Personen, und wir stellen uns natürlich nicht hinten an, sondern Neil kennt einen, der relativ weit vorne steht, und er quatscht den halt so an („Gestern Lauterbach bei Lanz gesehen?“) und als der antwortet („Ne, Lanz ist voll der Nazi“), stellen wir uns eben dazu. In den meisten Fällen ist das alles gar kein Thema, also das Vordrängeln, meine ich. Dass dann keiner was sagt oder einen Aufstand macht, ist glaube ich so ein deutsches Ding, dieses klassische Biedermeier-Duckmäusertum, Herumdrucksen und im Zweifel gar nichts sagen, sondern lieber Löcher in die Ozonschicht starren und schnauben wie ein sedierter Wasserbüffel.
Jetzt aber steht hinter uns Russell Crowe. Allerdings nicht der wanstige Weihnachtsmann der Gegenwart, sondern der muskelbepackte Russell Crowe aus Gladiator – ein Mann mit Schultern von der Breite eines römischen Turmschildes und der Körpergröße eines auf den Hinterläufen stehenden Kampfbären – und schon perlt der Schweiß auf meiner Stirn, während meine Knie zu Brie erweichen, gerade weil er mich ein wenig an Noah erinnert, dieser Russell Crowe, und ich dann wieder an dich denken muss, und ich balle die Hand zur Faust.
„Hey, Anstellen ist da hinten“, grunzt Russell und zeigt so ganz prätentiös auf das Schlangenende in zwanzig bis dreißig Metern Entfernung, so als wären wir die Idioten hier. Neil kann jetzt natürlich nicht mehr Markus Lanz verteidigen, und ich sehe richtig, wie ihn das nervt, weil man an seinem Hals diese kleine Ader sehen kann.
„Gibt’s ’n Problem, du Tim-Wiese-Verschnitt?“, fragt er und hat plötzlich diesen absolut irren Junkie-Blick drauf, und ich denke, „Klasse, gleich geht’s richtig hoch her hier“, aber wie immer, wenn man sowas denkt, passiert dann einfach gar nichts. Ich glaube, Russell hat wirklich kurz überlegt, ob er Neil mit der Faust einen Trip in die Charité buchen sollte, und er hätte es wohl auch getan, aber dann fasst ihn diese Frau, seine Begleitung, ganz sanft von unten am rechten Oberarm und sagt mit einer Stimme, weich wie ein Daunenbett: „Schon okay, wir wussten nicht, dass ihr zusammengehört.“ Die Frau nickt erst Neil, dann mir zu. „Natürlich könnt ihr euch dazustellen.“
Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es in Tschick von Wolfgang Herrndorf gleich zu Beginn so eine Stelle, an der sich der vierzehnjährige Protagonist Maik vor einer Beschreibung seines Schwarms drückt, der ebenfalls vierzehnjährigen Tatjana Kosic. Also man erfährt zwar, dass Tatjana 1,65 m groß ist, dass ihre Eltern aus Kroatien oder Serbien stammen, sie in einem weißen Mietshaus mit vielen Fenstern wohnen, und dass Tatjana einfach „super“ aussieht, das weiß ich noch, aber sonst erfährt man nichts. Als ich das Buch lesen musste, in der Schule, fand ich das richtig idiotisch, das mit dem Das kann sich jeder vorstellen, wie sie aussieht: Sie sieht super aus, weil das erkennbar nur ein Trick von Herrndorf ist, damit er diese Tatjana nicht beschreiben muss, und das hat mich gestört, obwohl ich das auch ein bisschen nachvollziehen kann. Wenn nämlich ein Erwachsener ein Jugendbuch schreibt, und das Mädchen, in das der Protagonist verliebt ist, ist vierzehn, dann kann man dieses Mädchen natürlich nicht so beschreiben, wie der vierzehnjährige Protagonist – oder überhaupt irgendein Vierzehnjähriger – das tatsächlich tun würde. Dann müsste man nämlich die Haare und den Busen und den Hintern einer Vierzehnjährigen beschreiben, aber man dürfte nicht so Wörter wie „Busen“ benutzen, sondern müsste „Porno-Titten“ schreiben, und dann ist man natürlich sofort der Pädo.
Was mich aber wirklich aufgeregt hat, ist, dass Maxim Biller und die Wirbelsturmfrisur vom SPIEGEL in ihren dämlichen Kolumnen schreiben durften, Herrndorf schreibe „authentisch“, er spreche gewissermaßen die Sprache pubertierender Jugendlicher. Das Problem ist nämlich, dass Erwachsene, die den SPIEGEL lesen, wirklich glauben, Vierzehnjährige würden sowas denken, wie: Tatjana sieht einfach super aus, aber ich bin in der Pubertät, und mir deshalb unsicher in Bezug auf das andere Geschlecht und meine eigene Sexualität überhaupt, und mehr sag ich deshalb nicht. Und, ach ja, niemals würde ich das Wort „Porno-Titten“ verwenden, um meine Mitschülerinnen zu beschreiben. Das wäre nämlich sexistisch.
Weil aber Mister Wirbelsturm vom SPIEGEL auch nicht schreiben kann: Herrndorfs Figurensprache erweist sich an mancherlei Stelle als durchaus defizitär – exemplarisch ließe sich die Authentizität seines pseudo-naturalistischen Jugendjargons auf einfachste Weise steigern, indem er schriebe: „Tatjana hat Porno-Titten“, denn das schiene ebenfalls verdächtig, doppelt sich der Verrat an allen echten Vierzehnjährigen gewissermaßen in dem Moment, in dem Mama oder Papa oder sonst irgendwer den SPIEGEL aufschlägt, und das hasse ich so daran. Jedenfalls habe ich das sofort durchschaut, aber Herr Klar, der Deutschlehrer, wollte davon nichts wissen und am Ende gab’s ’ne Fünf in der Klausur, trotz meiner scharfsinnigen Beobachtung.
Egal Karl. Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Diese Frau, die Begleitung von Russell, ist sicherlich älter als vierzehn und größer als 1,65 Meter und ja, sie sieht einfach super aus. Das eigentliche Problem ist, dass sie mich anschaut, und wie sie mich anschaut, fürchte ich, sie findet mich gut, und sie sieht auch noch ein wenig aus wie du, und deswegen schaue ich sofort weg, weil ich sonst ganz rot werde im Gesicht, das weiß ich. Ich werde aber plötzlich auch ganz traurig und auch ein bisschen wütend, und ich weiß gar nicht genau, warum das so ist.
Neil und Russell gucken jedenfalls wie zwei gestrandete Pottwale, halten aber respektvoll die Fresse. Ich befürchte jedoch, dass Neil trotzdem etwas sagen wird, weil er halt ein Idiot ist, der Neil, aber dann setzt sich vor uns die Menschenschlange in Bewegung und windet ihren massiven Körper in das geöffnete Maul des Asiords hinein. Ich höre dann noch, wie Neil Russell leise ein „Fick dich“ zuraunt, aber da sind wir auch schon im Inneren des Asiords und mich umgibt auf einmal so eine absolute Finsternis, wie ich sie nur aus meiner Kindheit kenne, wenn man nachts allein im Bett liegt, und die Rollos sind ganz unten, und unter dem Bett sind natürlich die Monster.
Nick Steinbrich (*2000) studiert Rechtswissenschaft in Münster mit Schwerpunkt im Verfassungs- und Verwaltungsrecht und ist regelmäßiger Teilnehmer der Literarischen Schreibwerkstatt der Universität. Er schreibt überwiegend Erzählungen und Prosaminiaturen. Der hier vorliegende Text ist ein Ausschnitt aus seiner Erzählung „In deinen Armen all die Dinge“. Sie handelt von einem jungen Mann, der sich - frisch von seiner Freundin - verlassen mit seinem drogenabhängigen Kumpel ins Berliner Nachtleben stürzt.