Ausgewählte Gedichte
Kinderschuhe
Dieser Aufzug in Görlitz. Ohne Innenwände
schob er sich, schob sich hinauf
und Stockwerke hinunter. Dein Finger schliff
grenzenlos gegenwärtig, die Bewegung zu spüren
eine graue Wand entlang. Wir waren im Zwischenraum
seltsam ausgeleuchteter Schatten
und gleichmäßiger Sinkgeschwindigkeit. Anderntags
steckten wir unsere Fußspitzen in Kinderschuhe. Was dachten wir
am Rande, was wir formten
waren Spuren in Freilichtkammern. Paradox
heimlich der Lückenmut.
Aus: Halbtonschritte, Black Ink 2023.
Pianissimo
Zwischen zwei Atemzügen in aschfahler Dämmerung
schemenhaft, nur gehalten, zeigt sich die Dissonanz
in den zarten Halbtonschritten meiner
umgewandten Fersen.
Die Melodie des Wildbachs ist ein silbernes Rauschen
wie in Wolldecken gewickelt, nur kälter, erscheint mir
dein nacktes Schlüsselbein wie aufgebrochener Asphalt
oder die Kante eines Gebildes, das die Helligkeit bricht
im Widerschein überkreuzt
ich mit langen Gliedern, die Kluft der
Verwitterung spürend.
Aus: Halbtonschritte, Black Ink 2023.
Schlafwaschgang
Wasch dein Geschirr
in der Dichtung dieses Kabelsalats
lass mich nur schlafen
bis der Frühling kommt und wir uns zufällig
wiederfinden ganz ohne Notwendigkeit
und trennscharfe Konsonanten.
Dann lass uns von blau und blau
sprechen und Pinienwäldern,
die herrlich duften.
Aus: Halbtonschritte, Black Ink 2023.
Rauscharten
Die Küste türmt sich auf. Wirft sich
wider Wolken, knorrige Kiefern, biegt
die lichten Birken. Oben und unten verkehrt sich
und auch du erscheinst dir neu.
Kaust Strandhafer. Schaust nach den Spuren
der Muscheln, den rotrunden Kammern
des Seetangs. Stapelst trockene Stöcke
und Stücke von Schilfrohren. Nebenan
krächzen drei Nebelkrähen. Möwen antworten.
Du räusperst dich.
Deine Farbe ist jetzt die des Sandes, du findest
ihn überall. Zwischen den Zehen, auf
deiner Landzunge. Sie schmeckt
nach salziger Lakritz. Der Regenschauer schäumt
deine Gänsehaut. Was ist, verrauscht. Was ist.
Gestöber
Es geht immer von einem Wort zum nächsten
und was man nicht mitteilen kann, verfängt sich
im Dickicht störriger Hecken, zwischen Felsspalten
und knorrigen Kiefern. Wo du bist, lernst du
Vokabeln, die tiefe Landschaft zu füllen, dunkle
Gewässer und graue Nebelgestalten zu lesen. Längst
stellt dein verhülltes Gesicht Zusammenhänge her
zwischen pulsierenden Wangen
und anderen gewisperten Sprachen. Wie ein Hund
suchst du im weißen Wirbeln
nach Klumpen, nach rosigen Fetzen
der Lautmalerei. Orientierst dich
mit geschlossenen Augen, ziehst die Kälte tief
durch die Nase in dich ein. Nicht weit
liegt das Dorf, fest eingehüllt
in Schnee und Wind und Eis. Verblassende
Tage unterscheiden sich nur um Nuancen
von stets nahenden Nächten. Die Zeit flockt
Schnee, stöbert in Sternen und dämmert Stunden.
Aus dem Zyklus: Geisterland
Wurzeln
Das Bild steht still. Dörfer verschwinden
hier schon seit Jahrzehnten, werden umgesiedelt, gehen
verschütt im einst flachen Land. Dunkle Löcher
klaffen, ihre monströsen Münder suchen gierig
nach Kohle, bis in den weiten Horizont durchkreuzen Erdfurchen
die Gebiete wie atrophe Narben, sie unterhöhlen
die weit verzweigte Struktur. Der Tagebau verschlingt, unermüdlich
trägt er Erinnerungen groß wie Städte ab, begräbt
Erdschicht um Erdschicht
Kinderzimmer, Dorffeste, Dorfreste, entwurzelt
die Sprache, trägt das Land der Ahnen und Träume
beständig auf Förderbändern ab. Nun flutet
Wasser die Krater, Kulturlandschaft.
Geister
Der Wind kann sich hier nicht halten
er entgleist, fegt durch
die zerbrochenen Fensterscheiben, rattert
an losen Türen, den Dachschindeln
fegt weiter über das brachliegende
Gelände, hält nur fest
an Gestalten, die schon lange
nicht mehr sind. Geistern wie er selbst
durch die grauen Breitengrade
die Hände voll Ruß in der einstigen Kohlewelt.
Selbst der Bauer geht hier vor die Hunde.
Trophäen
Die Orte sind leergefegt, ihr Hall ist unauffindbar
in die Leere der Landschaft eingeebnet. Über allem
liegt eine Staubschicht: den wenigen, verstreuten
Häusern, dem einzigen Gasthof, dem maulfaulen Wirt.
Hinter dem Ausschank poliert er stoisch
Trophäen einstiger Tage, Hirschgeweihe, Sportabzeichen.
Selbst die Wörter scheinen hier verstaubt, liegen
wie Platzdeckchen moosig-pelzig auf der Zunge, kleben
sich an den Unterarmen, den Handrücken fest.
Waidmannsheil, Mauerfall, Im Nu.
Die nikotingetränkten Spitzengardinen hängen
an Plastikstangen auf halber Höhe, halbieren den Blick
auf die einzige Straße, die Dorfstraße, messen unaufhaltsam
ihr Vergessen. Verschieben die Grenzen des Himmels
ins Hier. Draußen spielen keine Kinder mehr.
Heimat
Die Zeit sickert in das Land, sickert mitten in die brüchigen
Knochen. Jetzt markieren Herzschrittmacher
die Territorien, beschwören mit ihren elektrischen Impulsen
den Takt des Landes, stimulieren
das zu langsame Herz.
Als Kind wusstest du die Namen aller Tiere, kanntest
ihre geheimen Wege, ihr Einfluggebiet. Manchmal
warfst du den Nachbarshühnern Mutters geköpfte Regenwürmer
über den Zaun, schautest nach dem aufgeregten
Gackern, ihrem Flügelschlag. Jetzt meinst du, ihn in deinem Herz
zu spüren, in deinen flatterhaften Augen
beim Niederschlag. Abgründe
tun sich dir auf beim Schmieren des Brots, beim Lösen
eines Kreuzworträtsels. Die Seiten verblassen
in deinen Händen. Die Stube scheint immerzu kühl, die vielen
Stühle, Tassen und Teller
braucht es nicht mehr, sie sind nunmehr Requisiten
deiner Einsamkeit. Ein kleines Gerät hält Kontakt zum Herz.
Christine Johanna Seidensticker studierte Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Psychologie in Bonn, Ankara und Leipzig. Frühjahr 2023 erschien ihr Gedichtband Halbtonschritte bei Black Ink. Sie ist Redaktionsmitglied bei @kon_paper und lebt in Leipzig.