Kopfsalat

Da saß ich nun, mich im Matsch meiner Müdigkeit suhlend. Es war ein angenehmes Gefühl. Ich hörte kaum, was um mich herum geschah, tat in aller Ruhe was ich zu tun gezwungen war, und folgte den Uhrzeigern auf ihrer unaufhaltsamen Reise in die Unendlichkeit. Irgendwann war es dann aber tatsächlich so weit. Ich war vorübergehend frei und durfte meines Weges gehen, um die restlichen Stunden dieses grauen, beliebigen Wochentages mehr oder weniger selbstbestimmt zu verbringen.

Das mit der Selbstbestimmtheit war natürlich relativ. Das Monatsende stand vor der Tür meines Käfigs und der Wärter, in Form meiner Bank, hatte mir schon einige Tage zuvor per Push Nachricht mitgeteilt, dass meine Kaufkraft nun aus drei durch ein Komma getrennte Ziffern mit einem unübersehbaren minus davor bestand. Das war insofern wenig wünschenswert, als dass ich es, meiner generellen Müdigkeit geschuldet, die letzten Tage vernachlässigt hatte einkaufen zu gehen.

„Wieso machst du nicht mal ’ne Eisenkur?“ hörte ich es voll gutmütiger Ahnungslosigkeit aus meinem tiefsten Inneren hallen.

„Okay, Mama“, floss es aus meinem Mund leise ins Leere.

„Hast du schon wieder Kopfsalat?“ hallte es gerade noch in der Stimme meines Vaters durch mein Hirn, als ich am Schaufenster eines weltweit bekannten Discounters mit vier Buchstaben vorbeischlurfte. Ob ich Giuliano heute mal fremdgehen sollte?

Giuliano war der Eigentümer des kleinen Ladens unter meiner Wohnung und mit fremdgehen meinte ich natürlich nichts anderes, als woanders einzukaufen. Giuliano hatte eine sehr laute, offene, herausfordernde Art, die mein Blut, hätte uns nicht irgendein unsichtbares Band verbunden, zum Kochen gebracht hätte. Immer wenn ich konnte, kaufte ich bei ihm ein, da er mir mal erzählt hatte, dass der Laden die einzige Einkommensquelle für seinen Bruder und ihn waren. Dadurch bediente ich wohl irgendein billiges, abstraktes Bedürfnis nach Zusammenhalt, das tief in mir zu schlummern schien… oder ich war einfach auf Giulianos Soft Skills, seine tadellose Ausführung des kleinen Sales-Einmaleins, reingefallen. Leider hatte er vor kurzem seine Preise an die Kaufkraft seiner Stammkundschaft – eine Handvoll Frauen, die mit ihren kurzen, zum Bob frisierten Haaren und ihrer orangen, ledrigen Haut alle aus demselben Ei geschlüpft zu sein schienen – angepasst.

Gerade als ich mich für die Pauschalisierung der Damen, die gerne bei Giuliano einkaufen gingen, schämen wollte, ging ich abrupt zu Boden.

„Jo, Digga, da is’ grad’ einer gegen ’ne Laterne gelaufen!“, hörte ich jemanden von nicht allzu weit weg sagen.

Als ich aufblickte, stand neben mir ein Mann mit kurzen blonden Haaren und einem Bizeps, der dicker war als der Laternenmast, der mich gerade niedergestreckt hatte. Er sprach in den Hörer seines Handys anstatt in das Mikrofon, um mein Unglück in die Welt hinauszuschreien. Nachdem ein kurzer Fingerstreich über meine Schläfe bestätigte, dass ich nicht blutete, raffte ich mich möglichst schnell auf, um zu verhindern, dass mein Hosenboden auf dem nassen Asphalt durchweichte. Ich ging weiter, ohne dem Blonden weitere Beachtung zu schenken.

Egal wie sehr mir der Schädel brummte, die Entscheidung war gefällt: Nichts und niemand würde mir meinen Besuch bei Giuliano nehmen können. Auch wenn ein Kopfsalat bei ihm inzwischen gerne mal drei Euro kostete. Zum Glück war Giuliano einer der Guten – bei ihm konnte man mit Karte zahlen.


In den Nebel eines leichten Schwindelgefühls gehüllt, stand ich kurz danach vor der geschlossenen Ladentür und versuchte die kindlich anmutende Handschrift auf dem daran befestigten DIN-A4-Blatt zu entziffern. Vor kurzem hatte Giuliano mir erzählt, dass er erst nach seiner Ankunft in Deutschland überhaupt richtig lesen und schreiben gelernt hat. Mit 54 Jahren.

„Laden schließen weil Urlaub. Ich zurück in 2 Wochen.“

Gestern Abend noch habe ich seinen langen, weißen Zopf durchs helle Neonlicht tanzen sehen, während er einer Kundin in seiner gewohnt nahbaren Art etwas über die Länge seiner Zucchinis zu erklären schien. Jetzt war sein Laden geschlossen und er plötzlich im Urlaub.

Während ich unter dem Vorsprung über dem Schaufenster Schutz vor dem schüttenden Regen suchte, fiel mir auf, wie schwer beschädigt dieses war. Es wies mehrere breit ausufernde Löcher und Risse auf und der Bürgersteig davor war gespickt mit Glasscherben. Als hätte sie jemand in Eile weggekehrt und dabei eine Handvoll übersehen. Das Beet unter der Linde, die den Eingangsbereich des Ladens so lieblich zierte, war voller Steine, die die darin blühenden Rosen zerquetschten. So sehr ich hoffte, dass bei Giuliano alles in Ordnung war, gab es keine Möglichkeit mich dessen zu vergewissern. Seine Telefonnummer hatte ich nicht. Außerdem verstanden wir uns zwar gut und waren aus vielerlei Gründen auf der gleichen Wellenlänge, aber schlussendlich war er doch nur der Mann, dem ich ab und zu ein paar Lebensmittel abkaufte… oder?

Die einzig greifbare Wahrheit war jedoch, dass ich jetzt einen Kopfsalat brauchte. Da alle großen Supermärkte gleich schließen würden, blieb nur eine Option, die infrage kam: der Eckladen in der Parallelstraße. Dieser hatte einen entscheidenden Vorteil: Er war rund um die Uhr geöffnet. Eine Eigenschaft, die man Giulianos Laden nicht unbedingt zusprechen konnte. „Glück gehabt, mein Freund, heute offen!“, war seine Art mich zu begrüßen, wenn ich seinen Laden betrat.

Ich hatte noch nie jemanden in den Eckladen in der Parallelstraße gehen sehen. Sicherlich war es nicht leicht für die Person, der er gehörte, bei so wenig Kundschaft über die Runden zu kommen. So entschied ich mich also Giulianos Konkurrenz – wenngleich gezwungenermaßen – eine faire Chance zu geben. Auf dem Weg dorthin begann ich mich tatsächlich ein wenig darauf zu freuen, der Person, die mich dort empfangen würde, mit meinem Besuch eine Freude zu machen.


Umringt von bunten Kaugummipäckchen, billigen Feuerzeugen und abgelaufenen Schokoriegeln, saß eine alte Frau hinter einer von braunem Paketband zusammengehaltenen Plastikfront mit einem Loch auf Hüfthöhe und antwortete wie folgt auf meine Frage: „Nee, Kopfsalat hab’ ich keinen mehr. Sieht man doch! Wie wär’s mit Rauke? Beziehungsweise, sie kennen das wahrscheinlich eher als Rucola.“

„Gibt es wirklich nichts anderes? Rucola ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was ich wollte…“

„Ach ja? Fragen sie doch mal die Spanollis, die schmeißen das Zeug überall drauf. Lauter Grünzeugfresser da unten. Kostet auch nur ’nen Euro das Kilo. Sonderangebot.“

Es war entschieden zu spät, um über die Feinheiten mediterraner Küche zu debattieren, also ließ ich die Bemerkungen unkommentiert und fragte lediglich, „Sind Sie sicher, dass kein Kopfsalat mehr da ist? Den hab’ ich viel lieber.“

In der Zwischenzeit war die Frau mit knackenden Gelenken aufgestanden und lehnte nun schwer atmend einige Meter von mir entfernt an einem der leeren Regale.

„Tausendprozentich. Und ich sag’ ihnen noch was, ich mach’ jetz’ zu. Wenn sie den also nich’ kaufen, muss er wohl oder übel in die Tonne … Also?“

„Haben Sie sonst noch was im Angebot?“

„Nee. Hier schauen Sie mal, damit machen sie köstlichste Kanakenküche.“ Von einem auf den anderen Moment hatte ich eine weiße Plastiktüte halbvoll mit bräunlich vor sich hin gammelndem Rucola in der Hand. „Sie können wirklich nich’ mal ’nen Euro für so ’ne Spezialität aufbringen?“

„Ich mag Rucola eigentlich überhaupt nicht … und ein Kilo ist da auch nicht drin.“

„Achzich Cent, Jung’. Komm’ schon! Ich will Heim zu meinen Enkeln. Familie, Mensch! Das versteht du doch, oder? Du hast doch auch deine ganzen Habibis an jeder Ecke. Jetz’ zauder’ mal nich’ so!“, rief die Ladeninhaberin, während sie das Gitter zu drei Vierteln über den Eingang zog, um ihrer Absicht, mich loszuwerden, Ausdruck zu verleihen.

„Kommen wir da überhaupt gleich drunter durch?“, fragte ich.

„Wenn ich das mit meinen 64 Jahren jeden Abend schaff’, dann kommst du da, mit deinen Mitte dreißich ja wohl locker durch!“, sagte die Ladeninhaberin, während sie mir ihre offene Hand unter die Nase hielt.

Während ich mit der rechten Hand in meinem Portemonnaie fuchtelte und nichts außer einer zerkratzten EC-Karte und einer 50-Cent Münze ertastete, erwähnte ich nicht, dass ich erst 25 war und fragte stattdessen, ob ich mit Karte zahlen könne.

„Echt jetz’? So’n schöner, dunkler Haarschopf und keine achzich Cent inne Tasch’, Jung’?“

„Heute wohl nicht“, sagte ich, wohlwissend, dass heute ein Tag wie jeder andere war.

„Wie viel haste denn?“

„Fünfzig Cent.“

„Oha! Tja, das reicht beim besten Willen nich’, du.“

„Aber bevor Sie den Rucola in den Müll werfen, geben Sie ihn mir doch für fünfzig Cent.“

„Nee, nee, nee, nee, nee, nee, nee, Jung’. So läuft das bei uns hier nich’. Damit kommst du vielleicht bei dem Schwarzkopf um die Ecke durch, aber nich’ bei mir, du.“

Damit meinte sie ohne Zweifel Giuliano. Giuliano mit den langen weißen Haaren. Bekehren würde ich die Frau wohl keineswegs, aber ich hatte großen Hunger, also fragte ich, ob der Unterschied von dreißig Cent denn dieses ganze Hickhack wert sei, woraufhin sie prompt entgegnete, hier in Deutschland seien Regeln noch Regeln. Ob ich davon schonmal etwas gehört hätte. Dass es hier ums Prinzip ginge.

„Also produzieren sie lieber unnötig Müll, als das Essen kurz vor Ladenschluss günstiger unter die Leute zu bringen?“, gerade noch im Begriff vom Pferd zu steigen, ließ ich mich prompt von der Windmühle zurück in den Kampf ziehen.

Zwanzig Prozent sei sie doch schon mit dem Preis runtergegangen, entgegnete die Ladeninhaberin und warf ihre Arme in die Luft, um sie dann mit einem dumpfen Knall auf die Theke fallen zu lassen.

„Zwanzig Cent sind Sie runtergegangen, ja. Dann lassen sie mich doch mit der Karte zahlen.“

„Nee, nee, nee, das lohnt sich für mich nich’.“

Ihre Arme waren nun vor ihrem Körper verschränkt und tiefe Furchen gruben sich in alle Winkel ihres Gesichts.

„Und dreißig Cent Rabatt sind zu viel verlangt?“

„Mir schon klar, dass ihr da unten euch für die größten Verhandlungskönige haltet, aber bei uns macht der Markt die Preise, Jung’ … und hier bin ich der Markt.“

„Hängt das nicht vor allem von der Nachfrage ab? Die gibt es nämlich neben mir nicht.“

„Jetz’ reicht’s aber, Mensch!“, rief die Inhaberin und entriss mir die Plastiktüte, um sie postwendend in einen gelben Sack voller Papierknäuel zu schleudern. „Geh’ nach Hause, Jung’. Is’ schon spät. Du musst doch morgen bestimmt wieder früh auf’n Bau oder sowas.“

Meiner Don-Quijote-Impression müde, bückte ich mich also, stützte mich mit meinen Händen auf dem Boden ab und kroch unter dem Gitter hinaus auf den Bürgersteig. Als ich mich aufrichten wollte, lehnte ich mich zu weit vornüber, sodass mir mein Rucksack über die Schulter ins Gesicht schlug. Ein hohles Klatschgeräusch verriet mir, dass meine Zigaretten durch den kaputten Reißverschluss auf den nassen Asphalt gefallen waren. Ich hob die Schachtel vorsichtig aus dem Meer an Neonreflektionen, auf dem sie zu gleiten schien, trocknete sie an der Innenseite meiner braunen Stoffjacke, schnipste zwei Mal gegen die Unterseite und zog die vorletzte Zigarette raus. Mit dem Abendessen war es zwar nichts geworden, aber zumindest konnte ich vor dem Zubettgehen noch die letzte – die Glückszigarette – genießen. Dem spanischen Brauch nach zieht man, nach dem Öffnen einer neuen Zigarettenpackung, eine Zigarette heraus, dreht diese um und schiebt sie so zurück ins Päckchen, um sie dann als allerletzte zu rauchen. Dem Glauben nach soll einem das am darauffolgenden Tag Glück bringen.

Einen Moment nach dem beruhigenden Zischen der Feuerzeugflamme kam mir die Frage, ob ich wohl wirklich aussah wie ein typischer Bauarbeiter. Giuliano meinte eigentlich immer, ich sehe aus wie Johnny Depp in Don Juan. Das wahrscheinlich aber auch nur, weil ich einmal den Fehler beging mir einen Schnurrbart stehen zu lassen und seinen Laden zu betreten. Als ich den Rauch in die nun schüchtern gen Boden sinkenden Regentropfen blies, kam mir erneut sein zertrümmertes Schaufenster in den Sinn. Ob er den Laden wirklich in zwei Wochen wieder öffnen würde? Ob er überhaupt genug Geld hatte, das Schaufenster zu reparieren? Ob er dabei war, als es zertrümmert wurde? Ob es ihm gut ging? Wie er sich wohl gerade fühlte?

Ein ohrenbetäubendes Rattern ließ alle Fragen verpuffen und mit dem Zigarettenrauch ins Nichts verschwinden. Plötzlich war das Rollgitter vor der Ladentür weit oben und die Inhaberin stapfte mit einem tiefen Seufzer darunter durch, um es danach mit einem Ruck bis auf den Boden zu stoßen.

Eine Schlüsselumdrehung später hatte ich ihre klumpige, klauenartige Hand auf meiner Schulter und blickte in ein breites, zahnloses Grinsen, „Haste mal ’ne Kippe für ’ne arme, alte Frau, Jung’?“


Angel André Osorio ist Autor von Lyrik, Prosa und allem weiteren, was ihm in den Sinn kommt, sich aber einer genaueren Klassifizierung entzieht. Nach ereignisreichen Jahren, die ihn von einer Ecke Europas in die andere und wieder zurückgetrieben haben, lebt er aktuell in Köln und widmet seine Zeit der Lebenserhaltung des Feuers, das die Schriftstellerei in ihm entfacht. Aktuell arbeitet er an seinem Debütroman, den er zuerst mit dem Herzen, dann mit dem Kopf und zuletzt mit den Fingern zu Papier bringt. Seinen zuletzt erschienenen Band, Die Stunde des Wolfes, durfte er u.a. auf dem Festival „Zugvögel“, bei der Veranstaltung „Im Rahmen der Kunst“ und weiteren Lesebühnen im Jahre 2024 vorstellen.

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Thomas