Thomas

Freilaufender Hund reißt Rehbock am Kohlhof

Der Satz geht Thomas seit einer Woche nicht aus dem Kopf. In einer kleinen Kolumne der RNZ steht dort, an den Rand gedrängt, wie es nicht angeht, dass der Hund nicht angeleint war und der Jäger berichtet, wie er das Reh erschießen musste. Dabei ist der Satz so schön: Freilaufender Hund reißt Rehbock am Kohlhof. Irgendwo zwischen dieser Alliteration, der Kadenz, dem Timbre – in diesem Orchestergraben reißt also ein freilaufender Hund einen Rehbock. Und dann noch am Kohlhof. Irgendwas am Klang davon lässt ihn nicht in Ruhe. Antreibend, energetisch, euphorisch fast.

Miriam fragt Thomas, wie sein Wochenende war, und er denkt an den Satz. Er sagt ihr, dass sie langsam den Workshop planen müssen, und fragt sich, was der Autorin durch den Kopf gegangen ist. Ob ihr klar war, dass dieses operationelle Schreiben so viel in ihm auslösen würde. Sie stehen am Kaffeeautomaten und Miriam sagt ihm, dass sie sich dann gleich im Meeting sehen. Sie reden von Sparmaßnahmen und Managementverschwörungen und am Kohlhof reißt ein freilaufender Hund einen Rehbock und ein Jäger muss das bemitleidenswerte Tier richten.

Did you guys read the news the other day? fragt er. There was a column that said: Free running dog tears deer at Kohlhof. Auf seine Leidenschaft im Gesicht reagieren sie nur mit verwirrtem Schweigen. So, ok, what does that mean?, lacht ihn die Zoomkachel von Barbara an.

Oh, it really means nothing. I think it works better in German: Freilaufender Hund reißt Rehbock am Kohlhof. It has a nice ring to it, right? Sie lächeln und eine sagt, Yeah, sounds kinda cool. So that’s what you did on the weekend? Sie lachen gemeinsam – free running dog.

Thomas erzählt seiner Therapeutin davon, dass er sich auf der Arbeit nicht ernst genommen fühlt. Weniger wegen seiner Arbeitsleistung – er macht gute Arbeit – sondern vielmehr wegen solchen Situationen wie im Teammeeting heute. Aus dem Augenwinkel betrachtet er ihr Knie. Warum glauben sie denn, dass dieser Satz sie verfolgt? Thomas redet vom Orchestergraben, von dieser Dichotomie des domestizierten Hundes und des wilden Tiers, vom Gnadenschuss des Jägers, der dem Halter Vorwürfe macht – von der Journalistin, die offensichtlich entweder ihren literarischen Lebensweg noch vor sich hat oder sich aufgegeben. Aber wieso verfolgt? Sie sagen mir nur Dinge, die Ihnen an dem Satz gefallen? Thomas streichelt nervös sein Knie.

Als er sein Bier im Hof draußen absetzt, schaut er den ausgerissenen Zeitungsartikel an – die Tinte schon leicht verschwommen vom Kondenswasser an seinen Fingerkuppen. Warum ist der Hund überhaupt frei gelaufen? Gibt es keine Leinenpflicht am Kohlhof? Er stellt sich die Debatte im Stadtrat vor – lauter Stimmen, die darüber diskutieren, dass man doch mal eine Stadtkarte online stellen soll, wo die Gebiete klar eingezeichnet sind, in denen Hunde Leinen brauchen. An diesen magentafarbenen Orten sollte kein Jäger mehr Richter sein müssen. Überhaupt, dieser pathetische Bericht vom Jäger. Das ist ja sein Job, die Tiere zu töten, man schreibt ja auch nicht über eine Metzgerin so. Bei denen heißt es nur, dass die Supermärkte die kleinen Läden kaputtmachen. Im Ort nebenan ist ein Metzgermeister jetzt Bestatter. Thomas hat das auf einer großen Werbetafel gesehen. Eben, mach doch einfach deinen Job und wenn du das nicht kannst, dann mach halt einen anderen. Thomas würde noch heute Nacht seine Kündigung schreiben, nach dem Bier.

Sein Handy klingelte morgens irgendwo zwischen 5% Akku und 7:00 Uhr. Er hatte keine Kündigung geschrieben. Er hatte sein Bier getrunken und den ausgerissenen Zettel gelesen, der wohl in der Nacht runter gefallen war und jetzt irgendwo in den Rosenbeeten seines Vermieters lag. Er ging nach oben zum Duschen.

Thomas erzählte seinen Kolleginnen heute nichts mehr von der Musik, die er gestern Nacht auf dem Papier gehört hatte. Er sagte seiner Managerin auch nichts von der Kündigung – noch nicht. Er wollte den passenden Moment abwarten, die passende Bemerkung über den kritischen Zustand des Unternehmens und des Managements und ihr dann sagen, dass er geht. Stattdessen aber ging er in sein Meeting und schrieb endlich diesen Post für das interne Social Media Netzwerk fertig und antwortete auf alle 30 Mails und dann war es eigentlich schon Zeit für Mittagessen. Thomas war wachsam. Jeder Moment könnte Anlass sein zu gehen. Aber er musste vorsichtig sein – nicht, dass sie einfach nur denken, dass er sich beschweren will und dann eigentlich doch bleibt, weil Beschweren ist ja einfach Teil der culture und das muss ja auch mal raus, weil wenn man das nur so in sich rein frisst, dann wird man auch nur krank davon. Er redete beim Mittagessen mit Maria über alte Filme, die ihre Generationen verbinden und ein neues Projekt.

Ein paar Wochen später fragt seine Managerin ihn per Mail, ob er Lust hat ein neues Projekt zu übernehmen – er würde sogar im Ausland arbeiten dürfen. Er starrt an seinen Bildschirmen vorbei, mit Excel Tabellen und Outlook, fixiert diese Lücke zwischen ihnen. Dahinter, an die hellhörige Trockenbauwand seines Büros gepinnt, ein Zeitungsartikel: 

Asiatische Zebu-Rinder rissen in Lobbach aus


Jonas Spies (*1995) ist Autor, Mitbegründer und Webdesigner von Pigeon Publishing. Er schreibt hauptsächlich Lyrik & Prosa mit einem Fokus auf Trauer & Konflikt. 2014 nach Heidelberg gekommen, um hier Philosophie zu studieren und ist seit einigen Jahren in der Literatur- und Kulturszene aktiv. 

Zurück
Zurück

Kopfsalat