Kein Platz

„Na, und, wie lange bist Du schon unterwegs?“
Du, das bin wohl ich, und ich bin immerhin Ende zwanzig, als mich der Herr in der Schlange vor mir im Speisewagen aus dem Nichts duzt. Wir kennen uns nicht.
„Seit heute Morgen“, sage ich, notgedrungen, denn außer uns spricht im Wagen niemand, und nicht zu antworten wäre unhöflich, auffallend unhöflich. Hinzu kommt: Auch wenn ich ihn die doch steile Alterskluft hinauf nicht hätte duzen können, ohne respektlos zu wirken, habe ich wiederum – so das Generationengewohnheitsrecht! – jede mir aufgezwängte Zwanglosigkeit, die eigentlich eine Respektlosigkeit ist, zu dulden, zumindest, solange ich nicht unhöflich oder humorbefreit oder grundlegend unentspannt wirken will auf diesem doch recht engen Raum.
„Seit heute Morgen“, sage ich also, während sich jemand im Anzug an uns vorbeiquetscht. „Und Sie?“
„Auch“, sagt er, unter dem GeSieze zuckend, als hätte ich ihn angezickt, und insgesamt eine Spur zu schnell.
„Ah“, sag’ ich, denn jetzt wird’s natürlich interessanter, und es stehen eh sicher noch fünf Leute vor uns im Bistro. „Wann genau sind Sie denn los?“, frage ich so unbedarft und so offensiv wie möglich.
„Re-Relativ früh“, sagt der Herr verunsichert und urplötzlich aller Smalltalkbereitschaft beraubt. Blöd nur, dass außer uns im Wagen niemand spricht, und nicht zu antworten unhöflich wäre, auffallend unhöflich.
„Wie früh ist früh?“, frage ich also und lächle breit, aber uneinladend.
„Tja, pff, so gegen sieben“, sagt er mit einer Art trotzigem Stolz, in einem Ton wie Was hat die denn jetzt auf einmal? Ich wollte hier doch nur in Ruhe in der Schlange stehen und auf meinen Kaffee warten und das Mädel hier, das ich sowieso nicht ernst nehme und für grundlegend unterlegen halte, beliebig dominieren, n bisschen drüber quatschen, wer heute oder insgesamt schon die tieferen, härteren, längeren Leiden gelitten hat und deswegen der Stärkere, Größere, Bessere ist – ich, ich nämlich!
„Ah, sieben Uhr“, sage ich also bewundernd. „Ja. Wow.“ Stille. „Da hatten Sie’s im Vergleich zu mir ja noch ganz entspannt.“

Einen Bahnfahrtverzögerungsschwanzvergleich später versuche ich, mir in der Gleiskurve nicht den Kaffee über die Arme zu kippen.
„Ja, öh, wenn man will, ist heutzutage alles eine Mikroaggression“, höre ich, zurück im Abteil, eine Stimme sagen, und ich ordne sie – der Einfachheit halber – dem Typen mit dem lichten Haupthaar eine Sitzreihe weiter zu, weil er mir leid tut, jeder, der sowas sagt, meine ich, aber hauptsächlich tu’ ich mir selbst leid dafür, ihn gehört zu haben. Ich frage mich kurz, wann ich so fucking empfindlich geworden bin, bin doch schließlich hart im Nehmen, tough, resolut, ’ne Powerfrau, ’ne bad bitch, ’ne –

Chhhhrrrr, macht Iwan am Fensterplatz, während ich ihm, so behutsam wie möglich, seinen Kaffee auf den Ausklapptisch schiebe. Iwan schläft in letzter Zeit fast immer, außer nachts. Wenn wir unterwegs sind, verharrt er dafür in dieser merkwürdig zusammengesunkenen, gebeugten Haltung, in der er den Kopf in einem uneleganten Balanceakt vornüber hängen lässt wie ein pummeliges, speichelndes Schneeglöckchen.

Vielleicht ist empfindlich auch das falsche Wort, überlege ich, sehr wahrscheinlich sogar. Gereizt, das trifft es eher. Wütend, eigentlich. Wütend bin ich, zutiefst wütend, gehemmt wütend, unverwirklicht wütend. Aber: Noch ist das Gefühl nicht gesetzt genug für die Art von Bitterkeit, die dann doch irgendwo unsympathisch ist und die man nicht mehr los wird – immerhin.

Als ich Iwan eines seiner Haare aus dem Gesicht zupfe, bevor er es ein-cccchhrrr-t, dringt die ergraute Scheitelpartie einer Dame in mein Sichtfeld, die sich einiger Verrenkung aussetzt, um sich von der Sitzgruppe schräg gegenüber in meine Privatsphäre hineinzubeugen.
„Ihr Freund?“, fragt sie wohlwollend großmütterlich.
„Ein Freund“, sage ich.
Der Freund, denke ich.

Als ich zum ersten Mal mit ihr gesprochen habe, am Telefon, rauschend und veratmet über dasselbe Vielfache an Kilometern hinweg, über das auch Iwan und ich gerade rasen, wusste ich, dass ich damit das Richtige tat. Und, falls man sich das fragt: Es ist ausgeschlossen, dass ich mir das im Nachhinein zurechtzulege. Es gäbe schließlich nicht einmal eine Instanz, vor der sich von dieser faulen Ausrede Gebrauch machen ließe: Iwan hat davon nie erfahren, und wenn ich es ihm nicht sagen kann, kann ich es niemandem sagen.
Nein, ich weiß so bestimmt, dass es das Richtige war, weil ich das Gefühl nicht vergessen werde, das in mir aufstieg, nachdem wir aufgelegt hatten, diese vollendete, lächerlich glückselige Gewissheit, dass es bei allem Chaos, aller Willkür unserer Koexistenzen eben doch das eine, einzig Richtige gibt, dass es sich dabei nicht um eine grobe, sich selbst bestätigende Vereinfachung handeln muss, dass auch das komplexe große Ganze seine Eindeutigkeiten hat – dieses seltene Grundvertrauen eben, dass am Ende alles doch genau so ist wie es sein soll: das beste Gefühl der Welt. Ob ich mich dabei wichtig gefühlt hab’? Klar hab’ ich mich wichtig gefühlt, ich war instrumentell für das Gelingen dieser Versöhnung, die wichtig war, wichtiger als alles für Iwan, auch wenn er das damals nicht erkannte. Es war das Richtige, mit ihr zu sprechen, es ist auch in der Rückschau, ohne jede Romantisierung, noch immer das einzig Richtige, und trotzdem ist der Gedanke daran jetzt schwer zu ertragen.
„Danke, dass du das machst“, hat sie nach jedem Gespräch gesagt.
Nicht, dass du das für mich machst. Oder für ihn, oder uns. Sie hat auch nie gefragt, warum. Musste sie auch nicht. Denn, ja, warum macht man sowas wohl? Warum macht man sowas, wenn nicht aus –

Eine Hand rauscht an meinem Gesichtsfeld vorbei und ich bemerke, dass die Dame aus der Sitzgruppe seit geraumer Zeit auf mich einredet. So lebhaft, wie sie gestikuliert, scheint sie bisher ein überdurchschnittlich gutes Gespräch mit sich selbst geführt zu haben. Ich entschließe (zwinge?) mich, neben dem Lächeln und dem Nicken auch ein wenig zuzuhören.
„…und es ist ja auch gut, wenn man sich, auch ohne, jetzt, ‚verpartnert‘ zu sein, so umeinander sorgen kann, wie Sie das tun, näch. Die Sorge umeinander, auch in Freundschaft, das ist ja gerade heutzutage von wirklich großem Wert. Toll find ich das. Toll, wie Sie das machen.“
„Danke“, sage ich, und bin für den Bruchteil einer Sekunde – ich hätte es selbst nicht mehr für möglich gehalten – gerührt.
„Ja, jaja“, fährt sie fort, „Wir müssen zusammenhalten. Alle. Egal, wen wir lieben. Ich hatte dafür ja ganz lange meinen Hermann, näch. So ein feiner Mensch. Ein feiner, feiner Mensch. So geduldig. Und großzügig. Mit keinem ander’n hätt’ ich’s machen wollen, das Leben.“
„Ihr Mann?“, frage ich, höflich, wie ich bin.
„Ja, mein Mann. Bis zuletzt. Letztes Jahr dann hat der liebe Gott ihn geholt“, sagt sie und reibt sich die Nase.
„Mein Beileid“, sage ich, einfühlsam, wie ich bin.
„Sind Sie gläubig?“, fragt sie unvermittelt.
„Öh“, sage ich und atme einen Moment lang aus, in dem ich mir überlege – der Höflichkeit, der Einfühlsamkeit halber – zu lügen. „Nein“, sag ich dann, so sanft wie ich kann.
„Ah. Ja. Ja. Gut, gut, gut“, morst sie ein wenig in sich hinein, und ich bedauere, sie jetzt doch enttäuscht zu haben, denn nach ihrem Kompliment bedeutet ihre Gunst mir etwas.
„Ja. Gut. Aber gut“, sagt sie dann, und scheint sich damit fertiggetröstet zu haben. „Es ist ja nun auch nicht einfach, das alles zusammenzubringen. Den Glauben, und Ihre, näch… Or-Orientierung.“
„Orientierung“, sage ich tonlos.
„Ja. Ja, nun, wo Sie doch keinen Freund wollen.“ Sie hebt vielsagend die Brauen.
„Oh, achso, es ist eigentlich schon so, dass ich…“
„Das ist ja auch eine mutige Entscheidung, näch, Nein zu sagen, zu einem Mann. Noch dazu in Ihrem Alter…“
„Öh“, wende ich ein.
„Also ich hätt’ das ja nicht können, näch? Nein zu sagen, Nein auch zu Familie, und…“
„Naja, also ich würde jetzt nicht –“
„Als ich in Ihrem Alter war, da hatte ich ja schon meinen Sohn. Und Sie jetzt…” Bedauernd mustert sie meinen Gebärmutterbereich. „Ja, schade isses, näch, Sie sind ja eine hübsche Frau. Aber modern, modern isses allemal! Und wenn ihr Begleiter hier dann seine Partnerin gefunden hat, wer weiß, vielleicht verstehen Sie beide sich ja dann noch, und dann können Sie immerhin auf deren Kinder aufpassen, näch, wenn Sie dann für sich niemanden haben, ne, das ist ja jetzt modern, das alles, aber trotzdem gibt’s ja noch nicht viele von äh, von…Ihnen jetzt.“

Es gibt hier keinen Raum für Vorwürfe. Sie weiß es nicht besser und wird es vermutlich auch nicht besser wissen wollen. Und das – so wie die Verunsicherung und die Zweifel und die Wut, die sie zwischen uns gerufen hat – habe ich zu ertragen.

Auch Iwan hat es die längste Zeit über nicht besser gewusst. Auch wenn er das hätte können, wenn er sich angestrengt hätte eben, anstatt mit all der Zeit, die sie beide miteinander noch gehabt hätten, so sorglos umzugehen. Aber – Es war seine Sache, wie er über sich und sie verfügte. Ich sage nicht, dass ich kein Verständnis dafür habe. Ich hab’ ein immenses Verständnis, für beide Seiten, die ich beide zu ertragen habe. Mein Verständnis ist so immens, dass es mich wütend macht.

„Iwan? Iwan. Wir sind da.“
Iwan hebt die verkrusteten Augen, deren Inneres ich selten sehe, weil sie ständig geschlossen oder in sein Inneres gerichtet sind. Iwan hasst es, wenn ich ihn beim Vornamen nenne, hasst es wie die Pest, allein wenn ich an die Diskussionen denke, die wir darüber geführt haben: Ich weiß, wie ich heiße, und ich weiß auch, dass du weißt, wie ich heiße, wieso sagst du dann meinen Namen, es macht mich aggressiv! Als würde ich irgendeinen plumpen erzieherischen Trick auf ihn anzuwenden versuchen, gegen den er sich wehren müsste, irgendeine perfide Kundenbindungstaktik, ’nen pick-up-artistischen Armstreichler für garantierte sofortige tiefe Vertrautheit. Dass ich seinen Namen auch nach all den Jahren einfach schön finde, kommt ihm nicht in den Sinn. Manchmal frage ich mich, ob es daran liegt, dass das Schöngefundenwerden für ihn allgemein so ein fremdes Konzept ist? Ihm kräht bestimmt eher selten jemand ungefragt „Ja, schade, Sie sind ja eine hübsche Frau…“ ins Ohr. Aber all das reflexhafte Sich-in-ihn-einfühlen-Wollen führt jetzt nirgendwohin, und für den Moment ist das auch egal, denn er ist wach und wir können umsteigen.

Während unser Anschlussbus sich über den örtlichen Berg quält, öffne ich eine Flasche Wasser, reiche sie Iwan und behalte den Deckel so lange in den Händen, damit er nicht verloren geht. Ein Mann am Fenster – in unserem Alter – bemerkt das, auch das mit dem Deckel, und wir sehen uns einen Augenblick lang an.
In der letzten, besonders engen Kurve vor der Geländeeinfahrt fällt neben uns ein Stofftier zu Boden. Es gehört einem Mädchen, sechs vielleicht, oder sieben, das sich, jetzt mit beiden Händen, an eine Stange klammert, während seine Mutter ihm erklärt, es solle sich doch jetzt bitte mal zusammenreißen, zischt sie, für die Oma, der geht’s grad nicht gut, kannst du dich da ein bisschen benehmen?
Das Stofftier ist ein flacher, gehäkelter Pinguin, der mich aus zwei ungeübt aufgenähten Holzknopfaugen anglotzt. Er wird dort unten noch eine ganze Weile lang durchgerüttelt, in der wir, der Pinguin und ich, Blickkontakt halten, bis er schließlich von einem Stiefel beiseite geschoben wird, als der Bus an der nächsten Haltestelle zum Stehen kommt und Mutter und Mädchen unter dem Zischen des Schließmechanismus und der Schuldgefühle den Bordstein betreten. Wir setzen unsere Fahrt fort. Der Pinguin, an seinem Platz am Fahrraumboden, glotzt und glotzt und glotzt, fragend und vorwurfsvoll glotzt er mich an. „Fuck off“, denke ich – zische ich(?), laut(!?), und als mein Blick daraufhin zum Mann am Fenster schnellt, wendet er seinen rasch ab.

Mir hat auch niemand geholfen. Als Iwan und die Frau, mit der ich all die Jahre so bereitwillig, so sicher sein Leben geteilt hatte, und damit auch meines, als Iwan und seine Mutter wieder begannen, miteinander zu sprechen, spät, viel zu spät, aber immerhin, wurde es mit einem Mal hörbar still um mich. Ohne ein Wort des Abschieds. Ohne ein letztes „Danke, dass du das gemacht hast“, dass du mich all die Jahre getröstet, mir beigestanden, mich teilhaben lassen hast, damit mein Sohn und ich zueinander zurückfinden, egal, was dir das abverlangt hat, egal, was du verschweigen musstest. Ohne ein „Tut mir leid, wenn du dachtest, dass du mir auch etwas bedeutest, tut mir leid, wenn ich den Eindruck erweckt habe, ich würde mich auch um dich sorgen, verstehst du, es ging um meinen Sohn, da war mir jedes Mittel recht. Dabei hätte ich das verstanden. Ich verstehe es ja. Es reicht nur nicht, wenn ich’s mir selbst sagen muss.
Ob sie sich Gedanken darüber gemacht hat, was es für Iwan und mich bedeuten würde, was sie da von mir verlangte? Ich kann’s nicht sagen. Ab welchem Punkt die heimlichen Vorbehalte zwischen uns zu heimlichen Vorhaltungen, die ungebetene Sorge zur ungesehenen Fürsorge geworden ist, und ab welchem Punkt die Fürsorge einen von uns in diese merkwürdig zusammengesunkene, gebückte Haltung gezwungen hat, auf die der andere unwillkürlich herabblickt, all das ist kaum mehr auszumachen. Vermutlich hätte selbst sie das nicht kommen sehen können, auch wenn sie von uns dreien für die längste Zeit mit Vorsprung die Erwachsene war.

Später, bereits halb im Windfang, dreht Iwan sich noch einmal um.
„Danke, dass du das gemacht hast“, sagt er in den Stoß Krankenhausluft hinein, die mir entgegenweht.
„Klar“, sag ich, in einem Ton, der keinen Zweifel lässt, auch weil es da, nach allem, was sich zwischen uns verändert hat, bei allem, was wir füreinander nun nicht mehr werden können, eben keinen Zweifel gibt, nie einen gegeben hat.
„Bis bald.“

Iwan geht durch den Windfang, und ich gehe zurück in das Erwachsenenleben, in das ich eigentlich gehöre, das ganze Vielfache an Kilometern ziehe ich mich zurück. Mit all der Trauer, die ich mir anmaße, um eine Mutter, die ich mir anmaße, und mit all der Wut, die dazugehört, und die ich mitnehme, weil für sie hier, auf diesem doch recht engen Raum zwischen ihm und ihr und mir, einfach kein Platz ist.


Marie hat Jura in Köln und Paris studiert und sich darüber hinweggetröstet, indem sie die Schreibwerkstatt Köln gegründet hat. Seit 2019 veranstaltet und moderiert sie außerdem das monatlich stattfindende Literaturformat MIT ANDEREN WORTEN. Beim Schreiben interessiert sie alles 50- und alles 100-Prozentige: also Halbwahrheiten und -nehmungen, aber auch die echten, großen, vereinnahmenden Menschlich- und Gleichzeitigkeiten.

Zurück
Zurück

Ausgewählte Gedichte

Weiter
Weiter

Das Einzige, was schlimmer ist, als im Pilz