Auf Wiedersehn in Himmelshöhn

Vom letzten S-Bahnhof musste ich noch mit einem selten verkehrenden Bus zwanzig Minuten stadtauswärts fahren. Einer der wenigen anderen Fahrgäste, ein Mitte Dreißigjähriger mit einem Strauß Nelken in der Hand, sah aus, als könnte er dasselbe Ziel haben wie ich. Als wir ausstiegen und uns in derselben Richtung auf den halbstündigen Fußweg machten, sprach ich ihn an. „Auch zu Susanne?“ Er bejahte. Auch er war ihr Klavierschüler gewesen. In den letzten Jahren hatten sie sich noch privat getroffen und vierhändig gespielt. Meine Zeit mit Susanne lag länger zurück, sie hatte mich in den Jahren vor meinem Abitur unterrichtet. Sie war ungefähr 15 Jahre älter gewesen als ich – etwas zu jung, um meine Mutter zu sein, obwohl sie ihre beiden Kinder sehr früh bekommen hatte, die dementsprechend nur um die fünf Jahre jünger waren als ich. Sie lebte damals mit ihrem Mann, einem 30 Jahre älteren, großen und dicken Klavierprofessor, den etwa zehn- und zwölfjährigen Kindern, zwei Steinway-Flügeln, einigen Katzen und einer riesigen, sabbernden Bulldogge namens Claude in einem kleinen 50er-Jahre-Haus in einer Gegend, wo das großbürgerliche Berlin-Zehlendorf ganz bescheiden wirkt: Nahe dem Mauerstreifen, weit entfernt von jedem S- oder U-Bahnhof und den schönen südwestlichen Badeseen.

Wenn ich an das niedrige Gartentor kam, musste ich mich zunächst auf eine Begegnung mit Claudes schleimiger Schnauze gefasst machen, die allerdings schon das Unangenehmste an dem gutmütigen Riesen war. Durch einen engen Flur, von dem nach Reihenhausart rechts die kleine Küche und links die Treppe abging, erreichte man über zwei Stufen das etwas tiefer liegende Wohnzimmer mit Panoramafenstern zum kleinen Garten. Der Raum war fast vollständig durch die beiden Steinway-Flügel eingenommen, die ich als „his and hers“ zuordnete, da ich mich bei einem Pianistenpaar befand. Einen anderen Grund für zwei Flügel in einem Wohnzimmer, als dass ihre beiden Besitzer zusammengezogen waren, konnte ich mir nicht vorstellen. Nach der Trennung behielt sie allerdings beide, möglicherweise waren sie also beide ihre, oder der Professor benötigte seinen nicht.

Der Klavierunterricht bei Susanne war in einer mühelosen Weise exzellent. Wir erarbeiteten die Stücke technisch und musikalisch in aller Tiefe, und es blieb trotzdem Zeit für die im privaten Musikunterricht übliche Seelenhygiene, die durch die 1:1-Zuwendung einer Erwachsenen an eine Jugendliche möglich wird, und für Witze. Susanne war eine kleine, hübsche brünette Frau Anfang 30 und liebte Witze, insbesondere die unter der Gürtellinie. Sie erzählte und lachte mit weicher, heller Stimme.

Ich bestand mit den hier erarbeiteten Stücken nicht nur die Aufnahme-, sondern auch die Abschlussprüfung im Nebenfach Klavier, was sehr für Susanne und sehr wenig für meinen Klavierunterricht an der Musikhochschule spricht. Meine erste Klavierlehrerin dort leitete ihre Anmerkungen zu meinem Klavierspiel mit „Sie sind ja sehr intelligent“ ein, womit klar war, dass sie von mir in künstlerischer Hinsicht nichts hielt. Sie selbst war Synästhetikerin und teilte mir jeweils mit, welche Farbe die Klavierstücke hatten, ein Bach-Präludium in cis-Moll war zum Beispiel ein fahles Graugrün. Mein zweiter Klavierlehrer, ein gutaussehender Rumäne mit Haartolle, nahm Studenten im Nebenfach nur nolens volens, erschien oft gar nicht oder fläzte gelangweilt in seinem Stuhl und forderte mich auf, „schöner“ zu spielen. Im Gegensatz zu Susanne wurde er später auf eine Professur berufen, obwohl seine desinteressierte Art allgemein bekannt war.

Susannes Ehemann interessierte sich wiederum allzu sehr für seine Studentinnen, von denen Susanne auch eine gewesen war. Es gab da schon eine erste Ehefrau und erwachsene Kinder, und auch Susanne war er nicht treu. Irgendwann nach meiner Zeit trennten sie sich. Sie nahm einen Lehrauftrag an der Hochschule an, was bedeutet, dass sie besser nicht krank werden sollte, da nur die tatsächlich geleisteten Stunden bezahlt wurden.

Susanne wurde krank, Krebs. Sie ließ sich therapieren und wurde gesund, behielt ihren Humor, fieberte mit den beruflichen und romantischen Entwicklungen ihrer erwachsenen Kinder mit, sprach über ihre Katzen und unterrichtete Klavier. Ihren alten Exmann unterstützte sie auch ab und zu, wenn er krank war oder sonst etwas brauchte. Einige Jahre später kam der Krebs zurück, und Susanne hatte jetzt von Vielem genug. Sie brach den Kontakt zum Exmann ab und kämpfte mit alternativen Methoden um ihre Gesundheit, zum Beispiel durch das heilende Handauflegen, das durch die Mitglieder der alternativ-christlichen Johannischen Kirche angeboten wurde. In dieser Zeit des Rückzugs und der Neubewertung führten irgendwelche Verwerfungen auch zum Kontaktabbruch mit ihrer Tochter, der bis zu ihrem Tod nicht mehr zurückgenommen wurde.

Im Jahr vor ihrem Tod habe ich sie noch einmal besucht. Die Anzahl der Katzen war auf neun angewachsen, wertvolle langhaarige weiße Rassekatzen. Susanne hatte Sorge, dass sie gestohlen werden könnten, und hielt sie deswegen im Haus. Die neun Katzen räkelten sich dicht an dicht auf den beiden Flügeln. Das Haus war nie steril sauber und aufgeräumt gewesen, aber jetzt trug es Zeichen der Verwahrlosung und Susanne tendierte zum Inbild einer, wenn auch nach wie vor charmanten, „cat lady“.  

Von ihrem Tod erfuhr ich über eine Kurznachricht ihres Sohnes David, der in ihrem Handy ihre Kontakte durchgegangen war. Ich antwortete, nach der Beileidsbekundung, mit dem Angebot, zur Trauerfeier Klavier oder Orgel zu spielen und auch Gesänge zu begleiten, falls das erwünscht sei, vermutete aber, dass es in Susannes Umfeld, über ihren Mann oder ihre eigene Tätigkeit an der Hochschule, jede Menge viel bessere Pianisten gäbe, und hätte diesen natürlich den Vortritt gelassen. David ging darauf nicht ein, wahrscheinlich aus Überlastung. Nach dem Kontaktabbruch zur Tochter und dem 90jährigen Exmann fielen alle Aufgaben rund um Susannes Tod ihm zu, der seinerseits berufstätig und Vater von drei sehr kleinen Kindern war. An einem Überangebot an Pianisten lag es jedenfalls nicht.

Die Trauerfeier fand auf dem leicht verschneiten Friedhof in Stahnsdorf statt. David hatte sich für den Ritus nach Art der Johannischen Kirche entschieden, da seine Mutter mit den handauflegenden Heilerinnen dort zuletzt in herzlicher Verbindung gestanden hatte. Ich kannte außer David und seiner Schwester niemanden von der Trauergemeinde. Der alte Professor war nicht erschienen. Die Stahnsdorfer Friedhofskapelle ist ein auffällig schönes Jugendstil-Gebäude aus dunkelbraunem Holz mit bunten Glasfenstern nach Art einer norwegischen Stabkirche. Im düsteren Innenraum waren, wie üblich, die Urne, Blumen und ein großes Foto aufgebaut. Mit dem Jugendstil der Kirche harmonierte der Johannische Ritus ganz gut, denn er unterschied sich leicht vom Gewohnten durch sprachliche Eigenheiten, die nach dem frühen 20. Jahrhundert klangen. Tatsächlich spielte niemand Klavier oder Orgel. Ein Klavierstück von Liszt, das zu Susannes Paradestücken gehört und das sie bei ihrer Diplomprüfung gespielt hatte, erklang von einer Aufnahme. Der ehemalige Schüler mit den Nelken und ich hatten uns nebeneinandergesetzt, und wir fragten einander leise, ob es Susanne ist, die da spielt. Das war aber unwahrscheinlich, sie hatte unseres Wissens keine Aufnahmen gemacht. Sehr traurig waren die Gemeindegesänge, darunter „Von guten Mächten treu und still umgeben“, das sowieso niemand, der ein Herz hat, ohne zu weinen singen kann. Mangels einer Live-Begleitung wurde die Orgel von einer Aufnahme abgespielt, die deutlich langsamer und in einer höheren Lage lief, als man es gewöhnt war. Das führte dazu, dass einerseits durch Rührung und Weinen, andererseits durch sängerisches Unvermögen kaum jemand in der Lage war mitzusingen. Es traten noch Sohn, Tochter und Schwiegertochter nach vorne, um persönliche Worte zu sprechen, und dann begab sich die Trauergemeinde mit der Urne zur Grabstätte. Auf dem weitläufigen Friedhof mit seinen verschneiten Bäumen und Gräbern, der nach dem Dämmerlicht der Kapelle trotz der grauen Wolken sehr hell wirkte, mussten wir eine recht nennenswerte Wegstrecke zurückzulegen. Das taten wir schweigend, lauschten dem Knirschen unserer Schuhe im Schnee und hingen unseren Gedanken nach. Zum Begraben der Urne rief die Pfarrerin gemäß Johannischen Ritus den wunderlich optimistischen Gruß „Glück auf, Susanne! Auf Wiedersehn in Himmelshöhn!“, der mich an das gereimte Jugendstil-Kinderbuch „Hans Wundersam“ denken ließ. Nachdem jeder seine Handvoll Erde beigetragen hatte, begaben wir uns zum Parkplatz, um in spontanen Fahrgemeinschaften zu einem Café in Kleinmachnow zu fahren, wo es noch Kaffee, Kuchen und belegte Brote geben sollte. Die Stimmung lockerte sich und es begann die Phase der mehr oder weniger glaubwürdigen Geschichten. Susanne war in Schwaben aufgewachsen. Sie bekam zum Neid ihrer Cousinen den besten Klavierunterricht, war begabt, durfte als Jungstudentin an die Musikhochschule. Ihr Vater soll maßlos enttäuscht gewesen sein, als das Verhältnis mit ihrem Klavierprofessor herauskam. „So eine“ sei sie, er habe es ja immer gewusst. Als sie mit dem Professor nach Berlin ging, habe der Vater ihr das Haus gekauft, was im eingemauerten West-Berlin wahrscheinlich recht erschwinglich war, und damit seine Schuldigkeit gegenüber dieser Tochter ein für allemal als erledigt betrachtet.

Im Café landete ich in der spirituellen Ecke, mit der Pfarrerin, den Handauflegerinnen und einer weiteren Dame, die ich zuerst auch bei der Johannischen Kirche einordnete, bis ich erfuhr, dass sie nur eine Nachbarin war, die ebenfalls in Verbindung zum Übersinnlichen stand. „Sehen Sie auch Dinge?“, fragte sie mich.  „Nur sehr selten“, gab ich vage zurück, was in etwa meiner pragmatisch-diesseitigen, aber nicht unsensiblen Konstitution entsprach. „Sie werden auch sehen. Alle werden wir sehen. Nächstes Jahr ist ein Jahr der Offenbarung.“ Ein anderer hellsichtiger Mensch, eine Art spiritueller Führer, habe auch herausgefunden, wie es mit Jesus wirklich weitergegangen sei. Er sei nicht gestorben, sondern habe sich noch lange in Indien aufgehalten. Die Nachbarin empfahl mir das dazugehörige Buch. Auch war sie an diesem Tag bereits in Verbindung mit Susanne gestanden und konnte versichern, dass Susanne ihre Trauerfeier sehr gut gefallen hatte.


Laura Sophie Stölzl (*1978), entdeckte erst kürzlich das kreative Schreiben. Ihre bisherigen Veröffentlichungen sind musiktheoretische Fachliteratur.

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