ingenting
Das Foreign Service Institute (FSI) teilt Sprachen nach
dem Schwierigkeitsgrad für englische Muttersprachler*innen ein.
Es gibt fünf Kategorien.
I.
Koreanisch ist eine Kategorie-V-Sprache. Kategorie V heißt: Es braucht etwa 88 Wochen, um die Sprache bis zu einem professionellen Arbeitsniveau zu lernen. Hangul, das koreanische Alphabet, umfasst 24 Buchstaben: 14 Konsonanten, 10 Vokale. Die Form der Buchstaben basiert auf der Position von Zunge, Lippen und Gaumen, wenn man sie ausspricht. Aus den Buchstaben entstehen Blöcke, und jeder dieser Blöcke entspricht einer Silbe. Die Silben sehen aus wie kleine Quadrate und haben entweder einen oberen und unteren oder einen linken und rechten Teil.
Ieung ist ein Konsonantenbuchstabe und wird mit einem Kreis (ㅇ) dargestellt. Am Ende einer Silbe wird Ieung /ng/ ausgesprochen – wie in Song. Wenn eine Silbe mit einem Vokal beginnt, braucht man Ieung (ㅇ) als Platzhalter am Anfang, auch wenn es nicht ausgesprochen wird. Das passt. Auf Norwegisch heißt ingenting auch: nichts.
Ich schreibe meinen Namen: 알렉산드라.
Silbe 1: Am Anfang: Ieung (ㅇ). Nichts. Das /a/ ist ein senkrechter Strich mit einem kleinen Querstrich rechts (ㅏ). Das /l/ ist eine schräge Treppe, eine weiche Zickzacklinie, ein gewundener Weg. Im Koreanischen gibt es für /l/ und /r/ nur einen Buchstaben: Rieul (ㄹ).
Silbe 2: Eine weitere Treppe, eine weitere Zickzacklinie, ein weiterer Weg (ㄹ). Das /e/ ist ein senkrechter Strich und ein zweiter senkrechter Strich mit einem kleinen Querstrich links (ㅔ). Unten das Giyeok (ㄱ), das wie ein /k/ ausgesprochen wird. Es ist die obere Ecke eines Rahmens, ein offenes Rechteck, bei dem nur die obere Kante und die rechte Seite stehen. Ein gekipptes L, das nach rechts oben zeigt. Ich merke mir den Buchstaben, weil er aussieht wie eine Pistole. Englisch: gun.
Silbe 3: Oben links steht das Siot (ㅅ) für /s/. Nebendran ein weiteres /a/ (ㅏ). Im unteren Silbenteil dann das Nieun ( ㄴ) für /n/. Es ist ein rechter Winkel. Fast ein gespiegeltes Giyeok (ㄱ): /k/.
Silbe 4: Jetzt kommt Digeut (ㄷ) für /d/. Es ist ein umgedrehtes C in eckiger Form. Ein auf der Seite liegendes eckiges U. Eine geöffnete Box, bei der die linke Seite fehlt. Weil jede koreanische Silbe mindestens einen Vokal enthalten muss, kann Digeut (ㄷ) nicht allein eine Silbe bilden. Es braucht einen Vokal, um ausgesprochen werden zu können. Es braucht etwas anderes, um vollständig zu sein.
Der Laut /ɯ/ ist ein waagerechter Strich (ㅡ). Ein völlig neuer Laut, den es im Deutschen nicht gibt. Die Zunge liegt ganz flach in der Mitte des Mundes. Die Lippen bleiben entspannt, nicht gerundet oder breit gezogen. Ich kenne einen ähnlichen Laut bereits aus dem Russischen. Ich mache einen Ton, ohne meine Lippen zu bewegen: /ㅡ/. Es ist nicht möglich zu lächeln, wenn man diesen Laut ausspricht. Er klingt so, als hätte ich mich an Lauten verschluckt. Klingt so, als würde ich an Wörtern ertrinken. Klingt so, als würde ich es mir verbieten zu sprechen. Klingt bedrohlich-dumpf, hart und kantig. Ein Knurren. Ein Brummen. Eine Drohung. Vielleicht ist das /ㅡ/ aber auch nur eine Stütze, eine Leerstelle, ein weiteres Nichts.
Jetzt kommt auch schon die letzte Silbe – Silbe 5: Zu Beginn steht eine weitere Treppe, eine weitere Zickzacklinie, ein weiterer gewundener Weg. Das Rieul (ㄹ) ist diesmal ein /r/. Es nimmt eine andere Gestalt an. Erst war Rieul (ㄹ) ein Morgenstern und jetzt ist es ein Abendstern. Die Venus. Schließlich erneut ein /a/: Ein senkrechter Strich mit einem kleinen Querstrich rechts (ㅏ). Das Ende ist auch der Anfang. Das ist mein Name: 알렉산드라.
II.
Ich heiße Aleksandra, weil meine Babuschka in der Ob ertrunken ist, als mein Vater zwölf war. Als ich geboren wurde, wollte er unbedingt, dass ich so heiße wie sie.
Meine Uroma nannte mich Schurachka. Sie saß meist in einem Schaukelstuhl und summte, während sie ihren Oberkörper vor und zurück bewegte. Meine Oma nannte mich Saschenka und ihre Hände rochen immer nach Kernen der sibirischen Zeder, die sie mir aus dem Zapfen pulte. Meine Mutter nannte mich Sascha und mein Vater Sascha, radost nascha – Sascha, unsere Freude. Manchmal sagte er auch Saschka Kakaschka – Saschka, der Kackhaufen.
Mein Vater heißt Sergej. Deshalb heiße ich Aleksandra Sergejewna – Aleksandra, Tochter von Sergej. Der Vater ist der Ursprung der Tochter. Offizieller Bestandteil ihres Namens. Für immer eingeschrieben in sie.
III.
Norwegisch ist eine Kategorie-I-Sprache. 24 Wochen. Ich lerne Bokmål, die Schriftsprache, die neunzig Prozent der Menschen in Norwegen sprechen und die fast alle Medien nutzen. Norwegen gehörte 400 Jahre lang zu Dänemark. Bokmål ist die Sprache der Dänen, hat sich inzwischen aber zu einer unabhängigen Sprache entwickelt. Die andere Schriftsprache ist Nynorsk, die eher in ländlichen Gebieten und in Westnorwegen gesprochen wird. Das Alphabet ist einfach. Es besteht aus 29 Buchstaben und nur wenige davon existieren nicht im Deutschen. Ich bilde die ersten Sätze.
Jeg heter Alexandra. (Ich heiße Alexandra.)
Jeg kommer fra Russland. (Ich komme aus Russland.)
Jeg bor i Tyskland. (Ich wohne in Deutschland.)
Ich gehe für ein halbes Jahr nach Norge. Ich lese norwegische Bücher. Ich gehe på tur. Ich esse pølse med lompe. Ich trinke ein Bier für zehn Euro. Ich stehe auf Skiern. Ich versinke im Schnee.
IV.
In Russland versinke ich auch im Schnee. Im Kindergarten werden uns Geschichten von Wladimir Iljitsch Lenin vorgelesen – dem kleinen, fleißigen, hilfsbereiten, wahrheitsliebenden Wolodja. Sein Gesicht ist auf dem roten, fünfzackigen Stern, den ich in der ersten Klasse bekomme. Ich gehöre damit zu den Oktoberkindern (Октябрята), der ersten Stufe der kommunistischen Jugendorganisation in der Sowjetunion. Eines Tages kann ich meinen Leninstern nicht mehr finden. Meine Mutter sagt, ich hätte ihn wohl verloren. Ich weine und suche ihn. Meine Mutter sagt, dass ich ihn bald sowieso nicht mehr bräuchte. Unten im Innenhof nennt mich ein Nachbarskind „Faschist“.
V.
Deutsch ist eine Kategorie-II-Sprache. 30 Wochen. Das deutsche Alphabet basiert auf dem lateinischen Alphabet und hat 26 Grundbuchstaben. Ich sitze im Sprachförderkurs und lerne Zahlen, Farben, Wochentage und Monate. Ich sitze im Sprachförderkurs und spiele Verstecken. Mein Vorname Aleksandra – mit /ks/ geschrieben – wird zu Alexsandra – mit /xs/ geschrieben. Das /s/ nach dem /x/ bleibt erst und geht dann wieder. Das Patronym geht auch. Der Vater ist nicht länger in die Tochter eingeschrieben.
Ich esse eine Banane.
Ich trinke Cola.
Ich sammle Diddl-Mäuse und Fragen: Kommst du von drüben? Wie wird dein Nachname ausgesprochen? Bist du eine Kommunistin?
Kommunistin hat elf Buchstaben. Das /o/ wird kurz gesprochen, weil nach dem Vokal ein Doppelkonsonant folgt. Die i-Punkte sind schwere Steine.
VI.
Russisch ist eine Kategorie-IV-Sprache. 52 Wochen dauert die Erosion. Die Reihenfolge: Abwertung. Scham. Abspaltung. Verstecken. Verleugnen. Vergessen.
Zuerst gehen die Wörter:
учиться (lernen)
читать (lesen)
писать (schreiben)
школа (Schule)
учительница (Lehrerin)
книга (Buch)
Nach den Wörtern geht die Syntax. Nach der Syntax geht die Phonologie. Nach der Phonologie gehen die Träume. Nach den Träumen gehen die russischen Freundinnen.
VII.
Russisch ist eine imperiale Sprache. 175 Wochen.
Sich vom Unterdrücker zu befreien, heißt, die eigene Sprache zurückzuerobern.
Kiew zu Kyjiw.
Sergej zu Serhij.
Aleksandra zu Oleksandra.
Heiße ich Alexandra Sergejewna oder Oleksandra Serhijiwna? Bin ich ein Morgenstern oder ein Abendstern? Bin ich ein Rieul (ㄹ)?
Der Vater schrieb sich in die Tochter ein. Das Geschlecht schrieb sich in den Vater ein. Das Russische schrieb sich in mich ein. Was bleibt, wenn ich den Unterdrücker aus mir herausschreibe?
Ein Kreis, der als Platzhalter dient?
Eine geöffnete Box, bei der die Linke Seite fehlt?
Eine schräge Treppe, eine weiche Zickzacklinie, ein gewundener Weg?
Eine Leerstelle, die ich nicht füllen kann, egal, wie sehr ich mich bemühe.
Vielleicht bleibt einfach nur: ingenting – norwegisch: nichts.
Alexandra Polunin, geb. 1983, wurde in Sibirien geboren und ist mit acht Jahren nach Deutschland ausgewandert. Sie arbeitet als Kommunikationsberaterin und lebt in der Nähe von Heidelberg.