Folie
-
Dieser Text enthält explizite Gedanken zu Suizid und psychischer Belastung. Bitte lies ihn nur, wenn du dich stabil genug fühlst. Wenn du selbst betroffen bist, wende dich an eine vertraute Person oder professionelle Hilfe.
In Deutschland erreichst du rund um die Uhr anonym und kostenlos die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 – oder online unter telefonseelsorge.de
Natürlich erzähl ich hier keinem, warum ich die Patiententoilette benutze. Vielleicht fällt es nicht auf. Vielleicht denken sie, ich gehöre dorthin. Nicht zu ihnen, auf die andere Seite der Scheibe. Nicht in die Küche, wo ich so tu, als interessiere mich der Pschyrembel, den Herr Dr. Dr. liegengelassen hat, vorhin beim Essen. (Herr Dr. Dr. isst immer um zwölf, punktgenau, salzt sich dreimal nach, kleckert auf sein blauweißkariertes Hemd und auf die schwarze Stoffhose und auf den Pschyrembel.)
Angophrasie: (ἄγχω würge, ängstige mich, φράσις Rede): Gaxen, Staxen; Einschieben unartikulierter gedehnter Laute zwischen die Worte.
Ich rufe Max auf, lasse es möglichst beiläufig klingen. Er ist überrascht. Ich erwidere. Als hätte ich den Namen auf der Akte nicht erkannt. Früher trug er Pony und eine Brille mit dickem, transparentem Gestell, wie die zerbrochenen aus dem Chemieraum, nur halt in ganz. Jetzt hängen ihm seine Haare lang und fettig bis zur Schulter, an den Spitzen verblassen pinke Directions. „Und, was läuft so?“ Mit kratziger Stimme. Aber nicht so einer sexy kratzigen Stimme wie von den kalifornischen Mädchen in den Filmen, sondern eher wie eine Waschmaschine, wenn man Münzen in der Jeans vergessen hat. „Du studierst also was, Psychologie, Medizin?“ Seine Augen sehen merkwürdig aus, die Skleren gelbrötlich.
„Äh, genau. Ganz gut, eigentlich. Irgendwas muss man ja, nh. Bei dir so?“
Er hat ein gelbes T-Shirt und eine Pyjamahose an, so rotgraukariert und schlabbrig, dazu ohne Socken die Converse von Tyler the Creator, die in der Zehnten mal mintgrün waren und jetzt aber fast braun.
„Joa, muss, nh.“
Seine Fingernägel sind schmutzig, doch seine Hände genau wie in meiner Erinnerung: sanft, glatt, wie die eines Kindes, das nie schwer tragen musste. Es sind noch die Hände des Achtklässlers auf der Schulaulabühne.
„Du machst jetzt also diesen Test? Wie geht das?“
Er war mein Freund. Vielleicht mein bester. Wir haben Kendrick Lamar- und Jack White-Platten in seinem Zimmer gehört und Gitarre gespielt und gedacht, aus uns würde mal was werden.
Ich sage, er soll Bescheid geben, wenn er sich durch die Fragen geklickt hat. Dann schließ ich die Tür und klebe den Zettel dran: TESTUNG LÄUFT – BITTE NICHT STÖREN! Ich setze mich wieder hinter die Scheibe und nehme den Pschyrembel.
Angst (althochdeutsches Wort, dessen Wurzel an auch in eng steckt, verwandt mit angustiae, vgl. auch Angina): Anxietas, im Gegensatz zu Furcht gegenstandsloses, qualvolles Gefühl.
Gina gibt mir Akten, die ich in die großen Schränke einsortieren soll. Sie feilt sich die Nägel. Eine Therapeutin kommt vorbei, ohne Hallo zu sagen. Ein Arzt unterschreibt ein Rezept Diazepam. Eine Patientin telefoniert und erzählt der Person auf der anderen Leitung etwas über mentale Gesundheit. Den Begriff kenn ich eigentlich nur von Instagram-Kacheln, da ist dann ein Foto von einem Wal: „WAL – Ich habe ein geWALtiges Drogenproblem.“ Oder eine grüne Erdbeere: „REIFEGRAD – Ich begREIFE GRAD, wie sinnlos das Leben ist.“ Oder „SAUNA – Ich bin SAUNAh dran, mir das Leben zu nehmen“; mein Liebling ist ein Bild von farfalle, diesen Schmetterlingsnudeln, und da steht dann: „Ich FARFALLE in eine schwere Depression.“ Während ich die Akten einsortiere, überleg ich, wie ich darüber schreiben kann, dass ich den Max hier getroffen hab. Nach all der langen Zeit. Ich überlege, wie er sich schlagen würde in meinem Gameshow-Roman. Ich wollte nämlich mal einen Roman schreiben über eine Gameshow, wo es darum geht, dass die Teilnehmenden möglichst gut ihre Traumata unterdrücken müssen. Alle werden mit den schlimmsten Episoden ihres Lebens konfrontiert: Die Vollwaisen dürfen noch einmal im ausgebrannten Opel sitzen, die Erpressten kriegen die Nacktfotos gezeigt, die Belästigten werden an den Stellen berührt, die sie jedes Mal besonders doll abschrubben unter der Dusche, bis die Haut ganz rau ist – und am Ende gewinnt, wer am längsten durchhält, ohne durchzudrehen; der kriegt dann ein Preisgeld oder einen Plattenvertrag oder so was. Ich weiß übrigens auch nicht, warum ich immer solche furchtbaren Sachen schreiben muss.
Als Max fertig ist, macht er einen Termin zur Besprechung der Ergebnisse. Ich lade mir derweil die pdfs von der Hogrefe-Seite runter. ADHS-Selbstbericht: Kriterien erfüllt. ADHS-Kindheitskriterien: Erfüllt. „Genug Kriterien erfüllt, um das Vorliegen einer ADHS zu bestätigen“, copypaste ich aus der Vorlage in Medatixx, beziffere die Leistungen und speichere ab. Max schaut noch kurz zu mir, bevor er die Tür zuzieht, schaut, wie ich da sitze, hinter der Plastiktrennscheibe und er lächelt ein bisschen, das heißt, mit den Lippen zumindest. Dann fällt die Tür ins Schloss.
Anosognosie (Babinski) (α priv., νόσος Krankheit, γιγνώσκω erkenne): Verständnislosigkeit für die eigene Krankheit: Zustand, bei dem d. Kranke sein eignes Leiden nicht bemerkt; (…)
Ich geh aufs Klo. Ich streng mich an. Es kommt nichts. Es reicht noch nicht ganz. Aber fast. „Ich mach jetzt Pause“, sag ich und schieb noch ein „Bin gleich wieder da“ hinterher, bevor ich die Treppen runterhechte und Max einhole. Fünf Minuten später sitzen wir beim Burger King um die Ecke und bestellen 100%-Plant-Based-Patties, die zu 0% in einer anderen Pfanne gebraten werden als das Rindfleisch. Max fischt sich die Gewürzgurken raus, wie früher. Ich hab ihn immer ermutigt, vorne zu sagen, dass er keine will. Er beißt langsam rein und ich hab schon die Hälfte auf. Wir unterhalten uns über die Leute aus unserer Klasse. Die eine macht Jura, einer ist bei der Polizei – bei ACAB ist er mitgemeint – und die macht Pflegerin und der Geschichte – aber nicht auf Lehramt, sondern auf Taxifahrer –; irgendwann ist die Luft raus, ist in meinen Becher geflohen, wo keine Cola mehr ist, und was jetzt? Schönes Wetter draußen? Wie fandest du die neue Kendrick-Scheibe? Warum schmeckt Cola bei diesen Fastfood-Dingern eigentlich besser, als im Supermarkt?
„Hast du“, fragt er, „also … hast du immer noch manchmal so … dass es dir so geht, wie damals?“
Ich folge seinem Blick, wo das blaue Hemd die weißen Streifen bedeckt. Von denen ich immer sage, wenn mir mal die Ärmel hochrutschen, sie seien von der Katze, die ich nicht hab. In Nullkommanix wechsle ich in der Umkleidekabine vom Oberhemd in ein Longsleeve, obwohl es beinahe Sommerferien sind, und Max mit der eckigen Brille ist der Einzige, der hinschaut. Damals waren die Striche noch rot. Wenig später hab ich ihm einen USB-Stick in seinen Eastpack gesteckt, als er nicht aufgepasst hat. Da war ein Abschiedsbrief drauf und der Roman, den ich geschrieben hatte. An dem Freitag wollte ich vor die Bahn springen. Ich wollte zu einer Geburtstagsparty, was nehmen, mit irgendeinem Mädel rummachen und danach vor die 16 springen, aber nicht die Richtung Bonn, sondern Richtung Kinderkrankenhaus. Wir haben vorher Witze darüber gerissen, wie sehr wir uns umbringen wollen, und manchmal hat einer von uns auf seiner Box diesen Song von Sierra Kidd angemacht: Ich kill mich bevor dus tust.
Max und ich haben nie über den Abschiedsbrief gesprochen. Manchmal denk ich, oder hoffe eher, dass er ihn nie gefunden hat. Dass er noch immer in seinem alten Eastpack vergraben ist, in dem Zimmer mit dem Plattenspieler und der JBL-Box und dem Stop making sense-Poster – in dem Zimmer, das er bestimmt nicht mehr bewohnt und das nicht mehr existiert, außer in unserer geteilten Erinnerung.
„Ist schon okay, wenn du nicht drüber reden –“
„Nee, nee, alles gut“, sag ich, „ja … ist son phasenweises Ding halt, nh. Manchmal besser, manchmal …“
„… und jetzt gerade?“
„Jetzt gerade … ja …“
Er isst seine Pommes, ich schlürfe die Luft, nach ein paar Minuten stehen wir auf und verabschieden uns. Er gibt mir seine neue Nummer und sagt, ich soll mich mal melden. Ich sage klar und weiß schon, dass ich es nicht tun werde.
Bei den Tibetern gibt es so eine Meditationsform, wo man sich vorstellt, mit dem Einatmen das gesamte Leid der Welt aufzusaugen, um es mit dem Ausatmen verpuffen zu lassen. Ich finde diese Vorstellung sehr schön. Doch oft fühl ich mich, als wär ich nur dafür da, das Leid der Welt in mich aufzusaugen, es als mein eigenes auszuspeien und dann die Welt damit allein zu lassen. Ich geh zur Praxis, zur Patiententoilette, schließe die Kabine ab, setze mich hin und weine. Ich schluchze ein bisschen, aber auch nicht zu viel, weil ich nicht gehört werden möchte. Nach ein paar Minuten bin ich durch, steh auf, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, verreibe den Rest in meine Haare, und dann geh ich zurück zur Rezeption und sortiere die restlichen Akten in die großen Schränke.
Justus Maria, geb. 2001 in Köln, schreibt seit der Grundschule. Als Teenager Filme, 2019 erster Roman, unveröffentlicht (zum Glück). Momentan Arbeit an verschiedenen Theorie-Fiktionen und neuem Roman (hoffentlich besser). Seit 2020 Psychologiestudium. Vormalige Publikationen u. a. unter dem Pseudonym Ellen Ende.