Desire / Feigenbaum

es ist jetzt vorbei, also leg dich unter die trauerzypresse und stirb mein freund
denn du hast ausgedient, bist über dich hinausgewachsen; ganz platt gesagt,
hast du nach den sternen gegriffen und jetzt ist es vorbei, desire, this is the end,
this is schutt und asche auf deine aschefarbenen augen; schau nach hinten:
dort brennen schon die häuser, brennen schon die gartenzäune und brennen die dächer
aber du fürchtest dich, du fürchtest dich nicht, denn es wachsen feigen
an den flammen, den bäumen und das feuer berührt dich, berührt dich kaum zurück,

geh zurück & sprich the proximity of death aus

es gibt keinen namen für dich, so etwas wie dich, keine worte, keine geschichte,
keinen vermerk im archiv, nur löcher, wie den mond und du bist ein wildes tier,
schläfst im wald und im unterholz, unter holz und hölzern und zweigen;
leg deine hand in das fell, kraul dir die beine und nenn dich heimlich a deer, dear

oder nenn dich kyparissos, der schönste junge aus ceos, der ein sohn von telephos
und telephos war könig und ein sohn von herakles, der wiederum sohn von zeus
[was aber hier nicht weiter wichtig ist, denn es wird immer zu viel über väter
gesprochen]
vermerken sollte man jedoch, dass telephos, dein vater, als kind von einer hirschkuh
gesäugt,
als man ihn aussetzte und thēlḗ deshalb mutterbrust heißt, also rein volksetymologisch¹


du hast gelernt: die brust sieht immer aus wie eine frucht, eine melone oder eine grapefruit
oder eine feige, am meisten wie eine feige, wegen der drüsenkörper in der milchleiste; kleine
knoten und samen und gefäße, die du nicht namentlich kennst und die keine bedeutung tragen
für dich, nur etwas mehr haut und du wolltest immer lieber wie die amazonen sein:
männergleich, mit negierendem a- & mastós, die brust, d.h. brustlos, keine brust
und eine freie mamillentransplantation, während der operation, haben sie alles rausgeholt
aus dir, diese seltsamen vokabeln und sie ausgepresst, vor deinen augen lief der feigensaft
aus den händen, über den boden des op-saals und war ganz lila, weil alles gut war
und nichts weh tat, ja, es schmeckte sogar süß; analgetika in allen sinnen, ein rehfell aus mull;

hast du während der narkose eigentlich geträumt?

manche träumen ja von einen wald, vielleicht einer zwitterwelt, mit zwitterweltwesen,
die nur in alfentanil existieren und süßlich riechen; präge dir diesen geruch ein,
und denke häufig an die feige, wie an ein verschlossenes gefäß, denn du wirst
häufig warten, du bist das warten doch gewohnt, das warten beim arzt,
warten in der endokrinologischen praxis, warten beim psychiater, warten
in weißen oder beigen oder grauen, manchmal aber selten blauen wartezimmern;

du erinnerst dich: einmal gabs da WLAN und das passwort war: OdeAnDieFreude2001,
aber es funktionierte nicht, also weiterhin nur warten, als dich jemand aufrief, warte rief
und haben Sie die ganzen dokumente schon, die Wir brauchen, d.h. den zettel und den zettel
und den zettel und den zettel und wissen Sie schon, was genau Sie alles machen lassen wollen,
also machen Sie von A bis Z alles, weil naja die meisten machen das ja eher nicht, aber
ein anderer arzt meinte schon nach 10 minuten erstgespräch zu dir, dass beim aufbau dann,
d.h. dem formen eines phallus, gewebe aus dem rechten unterarm, bzw. die haut entnommen
und da hättest du ja tattoos, das sollte Ihnen bewusst sein und er sagte das mit so einer bestimmtheit
wie nur ein mann reden kann, der sein leben lang schon ein mann war, hast du ein problem damit?

nein, nein, du hast kein problem mit männlichkeit, männlichkeit hat ein problem mit dir,
kyparissos ,weil du zu flieder bist und das wird dir noch schwierigkeiten bereiten;
sieh, wie der arm deines vaters sich beugt und wie seine lippe zittert dabei, aus eisen
geformt, das kinn zu einer perfekten sichel, die die luft schneidet und die erde zerreißt,
die geschichten deiner kindheit, von starken männern auf dem olymp, so wirst du nie sein,
kyparissos und das wird dir noch schwierigkeiten bereiten, weil du einfach zu lila bist.
zu sensibel und die blüten, an den mauern und im garten des palasts liebst, mit
unangebrachter hingabe; jeder hat gesehen, wie lange du sie gestern angestarrt und kaum
geblinzelt hast dabei, pass bloß auf, du weißt doch was man zu solchen typen sagt, du


S C H L A P P S C H W A N Z du S C H L U F F I du S C H W Ä C H L I N G du

S C H W W W W du S C H S C H S C H S C H du du du S C H W du du du du

S C H S C H na du weißt schon du weißt S C H S C H warte mal….


darf man das heutzutage überhaupt noch?

ja, man darf gewiss und zwar grade jetzt, denn seit neustem geistert dieser geist auch
durch deutschland, ja, deutschland und deutschland geht daran zugrunde, unser schönes
deutschland, wird von uckermark bis wattenscheid vollkommen überwuchert, von
gespenstischen, lilafarbenen trieben und ihr wisst doch, von wem ich spreche, meine güte

warum haben sie damals eigentlich listen geführt?
und führen heute eine zentrale datenbank?
ein herbarium der geisterhaften unkräuter;

alfentanil

vergiss es kyparissos und mach dir keinen kopf darum, erst mal musst du deine adoleszenz
zelebrieren, mit allen unvernünftigkeiten und unanswered prayers: liebe götter macht dies
oder macht das und gebt mir einen anderen körper, der nicht so schnell wächst in jene richtung
oder gebt mir a different desire than purple; nein? okay schade, dann nicht, dann vielleicht
die diffusion des ichs, bei gleichzeitiger dissolution im du: du lädst dir grindr runter und
schreibst in die bio: HOT TWINK IN YOUR AREA und NO FRESCO NO CHAT ;
aber pass auf kyparissos, im internet, das noch nicht erfunden ist, spielen auch deities mit
und du weißt doch, was man über deities sagt: sie sind launisch;

aber kaum hast du ceos verlassen - natürlich - hängst du den ganzen tag nur am telefon
und schaust dir profile, ohne gesichter, mit namen an, die nicht ihre echten sind und
der archaïsche torso apollos, ist ein pixel, der dir besonders imponiert in sonettform,
in topform, die bauchmuskeln, das weiche haar, dazu die weichen gesichtszüge und augen
wie rehfell, kleine muttermale auf der hüfte, wo das tuch leicht verrutscht, entblößt lenden
verziert mit lorbeerblättern und du weißt: du musst dein leben ändern;

dieser mann, mit dem du sprichst, der hat gesehen wie die dunkelheit vom licht getrennt wurde
und wie der himmel seine wölbung bekam, dass die sonne über ihn zum abend huscht und
was hast du mir anzubieten kyparissos? überzeuge mich

na gut, apollon, na gut; für meinen nächsten trick benötige ich ein bisschen fingerspitzengefühl
für metamorphosis oder zumindest ein geschliffenes messer, mit dem ich das desire
aus dem verschlossenen gefäß hole, ohne es zu beschädigen, es ist fragil und es ist
noch nicht ausgewachsen, deshalb sei gut zu ihm und mir und sags nicht dem papa bitte,
sag es auf keinem fall meinem vater, denn ich bin nur auf reise hier und es ist das erste mal,
dass er mich mitnimmt in die großstadt, sei ein good god und triff mich im schatten
dieses feigenbaums, an dem für jeden finger eine feige hängt, in lilablau, noch nicht gereift
und leicht versteckt hinter den blättern; aber schau: die innenseite meiner oberschenkel,
da wo die haut besonders zart ist, wie fruchtfleisch zum anbeißen; nur sag es nicht dem vater
bitte, er hat einen plan für mich, der keine zärte zulässt, keine weichen männerlippen²


und kyparissos erscheinen zeichen: bis zur verabredung mit apollo, zählt er alle
palisanderholzbäume, die am wegrand stehen in lilafarbener voller blüte, so hübsch,
so hübsch, habe ich gewartet auf dich, im moos und im geäst, mit goldlocken,
die terrakottalider halb geschlossen, das nennt man fick-mich-blick, wusstest du das apollon?
und wenn du es wüsstest, hättest du mich nicht geghosted? wenn du mir nur ein mal
richtig in die augen geschaut, ich schwöre dir, du hättest nur noch flieder und immer wieder
nur flieder nur flieder nur flieder nur flieder gesehen; stattdessen zerfleische ich vor scham
und verschleiße unbenutzt, dabei wich der leichte geruch einer feige, nie ganz von meiner seite,
er ist immer noch da, weil ich die farbe gesehen habe und habe sie erkannt, in ihren
ausprägungen wie hue, brightness, saturation, gibt es viele davon: orchidee und pflaume
und amaranth; es wachsen überall zeichen aus der alten erde gaia, wenn man nur weiß,
wo man sie suchen muss und gaia tut sich auf, biegt die bäume des waldes beiseite,
dass aus dem wald eine hirschkuh zu kyparissos tritt, wie neugeboren und ein geweih trägt,
obwohl sie kein mann ist, ein zwitterweltwesen, verstehst du was ich meine?

ovid hat darüber geschrieben:
„am gerundeten Halse
Hing zum Buge gesenkt von edlen
Gesteinen ein Halsschmuck
[…] & an jedem der Ohren
Schimmerten Perlen³

und wie sich die hirschkuh zahm vor ihm verneigt, sieht er tief in ihren augen,
unendlich weit, sieht er in ihnen die sterne am himmelszelt stehen, wie orion,
den jäger mit schild und mit keule und aus dem holz der umstehenden bäume,
zieht er einen bogen, einen pfeil, eine vogelfeder; wiederholt:
ich komme klar alleine und ich will nicht zurück, ich verteidige uns,
wenn es hart auf hart kommt, denn wir sind beide freaks, verstehst du was ich meine?

wir sind alfentanil geister, die man stehen lässt oder sterben
und wenn wir nichts können als sterben, dann wenigstens das gemeinsam

also sprich the proximity of death aus

wenn im op-saal die geräte piepen, erinnert es dich an einen herzschlag oder viele
und du denkst an die schönen feigenbäume; zur befruchtung legt die feigenwespe
ihre eier, in die männlichen fruchtknoten der blüte, wo sie daraufhin stirbt und zersetzt
wird und in dir, zersetzen sich ganze civilisations, wenn im op-saal die geräte piepen,
dann klingt es wie eine geisterbeschwörung; sprich auch das aus: das gute leben
sag: ja es gibt den tod, es gibt den tod in diesem text und es gibt ihn außerhalb und
dazwischen und das ist gut s, denn wenn kyparissos, die hirschkuh, am ende der geschichte
nicht mit einem verfehlten schuss trifft, dass sie rot ausblutet in seinen armen, dann
gibt es auch keinen grund blumen auf ihr grab zu legen, die wurzeln schlagen, tief
in die erde hinein und in deine offenen narben; du hälst das ohr an die blumen und lauscht;

desire, warum hast du mich verraten?

es ist jetzt vorbei und du triffst ihn im wald, während hinten schon die häuser brennen,
die bäume brennen noch nicht; die waffen zur zerstörung wurden von bekannten gebracht
und du kennst ihre namen und du kennst die gesichter der geisterjäger: als erstes
schossen sie auf zivilisten, dann schossen sie auf freilaufende tiere, dann schossen sie
auf eine löchrige mauer, dann schossen sie in den wolkenlosen himmel; aber du versteckst dich
in seinem schatten, bevor der nächste tag anbricht - denn das tut er - in den körpern der feigen,
in dem schönen violett, trennst du das fruchtfleisch von den flammen, so lange es möglich ist
und dann noch etwas länger, als sie von dir erwarten.


¹ in der nähe der heutigen stadt İzmir, findet sich eine darstellung des kindes telephos,wie es an der brust einer löwin hängt und in weiteren refliefs, wie er wacker gegen die hellenen in den krieg zieht; alles um zu sagen: dieser mann hier hat die stadt gegründet, also pergamon und dafür brauchte man nun mal ein stärkeres tier als so eine olle hirschkuh

²du in analgetika hingegen, wolltest immer etwas härter werden, du wolltest immer etwas HÄRTER und HÄRTERER und ÄRTERERERER und HÄRTERERO HERTEHO HE HE HE HO HE HO HA HE TE RO wirkt die narkose noch und träumst du schon? träumst du von einer aufgeschnittenen feige? träumst du von einer fleischwunde? du bist auch einer dieser geister

³ aber bevor man sich jetzt freut, über den ganzen glitz und glam, ist noch zu sagen: ovid hat den hirsch nur so beschrieben, um die männliche geschlechterrolle umzukehren und kyparissos als eindeutig nicht-männlich zu markieren, als milchbubi sozusagen und auch nur so konnte apollon ihn lieben; sobald die grenze zum mann-sein überschritten war, gab es keine schwulen spielereien mehr, denn entgegen der weitverbreiteten annahme, dass sie im antiken griechenland vollkommen normalisiert war, endete das konzept von homosexualität an genau dieser stelle. danach gab es: frau & hochzeit & söhne & doppelhaushälfte & kombi & vollzeit & urlaub auf den balearen.


Yohan Holtkamp ist Dichter und Performance-Künstler. Er studiert an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Seine Texte wurden in mehreren Anthologien veröffentlicht. Performances waren u.A. auf der Trans*Poetica, im Gold+Beton und der Temporary Gallery zu sehen. 2025 ist er Resident am Center for Literature in Münster.

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