Christina

Montag bis Freitagnachmittag ist sie Christina. Christina geht manchmal zu Rewe, aber meistens zu Aldi und kauft nur Eigenmarke. Am Wochenende geht sie mit einer Freundin frühstücken und hört ihren Datingabenteuern zu. Abends schaut sie eine egale Serie auf Netflix, bei der sie zwischendurch die Namen der Hauptfiguren vergisst. Christina studiert irgendeine Geisteswissenschaft, in der es ein Berufstrainingsmodul gibt, weil niemand so genau weiß, was man damit eigentlich später mal macht. Ihre Kommilitoninnen sprechen von ihr als „Süßmaus“ und manchmal bringt sie ihnen einfach so eine kleine Backware mit und sagt „Hab‘ an dich gedacht.“, damit sie auch eine Süßmaus bleibt.

Christina ernährt sich vegan, weil sie mit 19 eine viel zu brutale Doku geschaut hat, die sie nachhaltig verstört und damit von tierischen Produkten abgebracht hat. Sie trägt kein Makeup, weil sie das als patriarchal auferlegte Scheinpflicht erkannt und somit abgelegt hat. Ihre Skincare hält sie trotzdem rigoros aufrecht.

Wenn sie jemand fragt, warum sie nicht arbeite, antwortet Christina, dass sie finanziell sehr privilegiert sei und von ihren Eltern großzügig unterstützt werde. Sie hasst es, zu lügen, aber die Wahrheit ist ihr unangenehmer als das Image des verwöhnten rich kids.

In Wahrheit hat Christina seit 2019 nichts von ihren Eltern gehört und bekommt trotzdem kein Bafög.
In Wahrheit kämpft sie jeden Tag mit ihr um ihre Persönlichkeit.
In Wahrheit kann sie Freitagabend nie mit auf eine Party kommen, weil sie dann die Göttin ist.

Die Göttin bekommt mehr pro Stunde als Christinas Freundinnen beim Kellnern, an der Kasse und im Callcenter zusammen. Die Göttin wird aber nur bezahlt, wenn auch jemand bucht. Manchmal hängt sie die vier Pflichtstunden von 21 Uhr Freitag bis 1 Uhr Samstag im Bademantel auf der klischeehaften schwarzen Couch und liest die Pflichtlektüre für das 10-Uhr-Seminar am Montag. In anderen Wochen lehnt sie Kunden ab, weil sie nicht genug Zeitslots im Raum bekommt.

Die Göttin kennt nichts unter full face makeup. Primer, Foundation, Concealer, Contouring, weißer Kajal, schwarzer Kajal, Lidschatten in schwarz und rot, Lidstrich, Wimperntusche, setting spray. Alles von NYX Professional oder Kat von D. Ihre Haare sind streng zurückgegelt und in einem eisernen Pferdeschwanz zusammengefasst. 40 Minuten für die Routine nur noch. Dazu hohe Lederstiefel, die bis an die Knie gehen. Grobe Netzstrumpfhose und PU Body, alles in schwarz und mittlerweile Marke. Eine Kette, in einen Ring am Kragen eingehängt, die bei jeder Bewegung rasselt. Am Anfang mochte sie den Look. Jetzt ekelt es sie an, dass sie sich der Fantasie so leichtwillig hergibt. Aber dafür wird gezahlt.

Die kritische Literatur aus dem Studium sagt ihr, dass sie sich unterdrückt und gepeinigt von ihrem Job fühlen müsste, jederzeit zu entkommen versuchen sollte. Wenn ein Kunde besonders langweilig ist, denkt sie manchmal an die Schilder, die in ihrer Straße vor den Cafés stehen. Aushilfe gesucht. Peitschenschlag auf den Rücken. Dann denkt sie an die Löhne ihrer Freundinnen. Peitschenschlag auf den Hintern. Sie denkt an ihre Freundinnen, die absagen müssen, wegen der Arbeit. Fester Zug an der Halskette. Der Kunde ruft „Stopp!“. Eine Viertelsekunde hält sie inne. Dann: Peitschenschlag zwischen die Beine. Er schreit. Das war nicht das safeword.

Die Session ist vorbei. Er sagt: „Wow, da war ich manchmal wirklich kurz davor, echt Stopp zu machen.“. Sie nickt. „Hier, für dich“, sagt er und drückt ihr einen zusätzlichen Fünfziger in die Hand. „Danke. Komm mal wieder, kleine slut.“, sagt sie. So will er genannt werden. Er grinst und bewegt sich in Richtung Umkleide. Bis zum Nächsten hat sie eine halbe Stunde Zeit. Sie hängt die Peitsche wieder an die Wand und denkt: „Das war die mittlere. Wahrscheinlich erstes Mal, aber überdurchschnittliche Schmerztoleranz.“

Zeit für einen Snack. Instagram auf. Sie sieht eine ihrer Freundinnen, wie sie in einer Story in die Kamera prostet und die Zunge rausstreckt. „Ganz wild heute.“, denkt sie und schmunzelt. Sie isst einen veganen Proteinriegel und tippt sich durch die Freitagabendstorys. Früher war sie neidisch, wollte auch an diesem Abend Christina sein. Jetzt genießt sie es aber, Christina für ein paar Stunden abzulegen und die Göttin herrschen zu lassen.

Das hat schließlich auch Vorteile. Die Göttin sagt nie bitte oder danke. Die Göttin befiehlt, kommandiert und bestraft. Sie duldet keinen Ungehorsam, nicht einmal ein Zögern im Befolgen ihrer Befehle. Wartet ein Kunde mehr als ein paar Sekunden, erinnert sie ihn an seine Rolle. Er ist ein devoter Diener der Göttin, immer darauf bedacht, Gehorsam zu zeigen und ihren Anweisungen zu folgen. Die Göttin ist eine Expertin im Thema Schmerz. Sie weiß, wie man einen Masochisten befriedigt, weiß, was der Unterschied zwischen Schmerz am Rücken, zwischen den Beinen, im Gesicht und am Hals ist. Sie versteht, wie sie ihre Diener gefügsam macht. Die Göttin erwartet, dass sie verehrt wird. Es ist ein Privileg, ihren Körper zu berühren und ihr huldigen zu dürfen.

Christina steht im Zwiespalt mit der Göttin. Wie einfach es wäre, wenn die Regeln der Göttin immer gelten würden.

„Sie wollen mir das Geld nicht erstatten?“, sie würde die Augen verdrehen. „Auf die Knie. Ausziehen.“ Einmal oder zweimal ordentlich würgen, vielleicht ein Tritt zwischen die Beine. Da knicken schon 90% ein. Der Kundenservice-Typ mit Sicherheit auch. Oder in der Schlange im Supermarkt. „Kniet nieder, ihr unbedeutenden, lächerlichen Diener.“, würde sie sagen und zur Kasse gehen. Wobei, wozu? Als ob die Göttin für ihre Einkäufe zahlen müsste. Es ist schon unrealistisch genug, dass sie überhaupt selbst einkaufen gehen würde.

In anderen Momenten wundert Christina sich über die unerwartete Präsenz der Göttin. Hin und wieder taucht sie einfach so auf, wenn sie genervt ist, oder wenn ihr gerade etwas nicht passt. Letzte Woche war sie in einem Meeting für eine Gruppenarbeit und eins der Mitglieder war nicht bereit, ein eigenes Kapitel in der Reflexion zu übernehmen. Da griff die sonst als Süßmaus bekannte Christina ein und hielt eine kurze Brandrede über die Verantwortung jedes der Mitglieder für den Erfolg der Gruppenarbeit, am Ende war das entsprechende Mitglied so eingeschüchtert, dass es doch einwilligte. Sie selbst überrascht von der Macht ihrer Worte.

Einschüchtern. Ist das nicht eher der Fachbereich der Göttin? Manchmal ertappt sich Christina dabei, dass sie die Augen rollt, wenn ihr ein Freund schreibt: „Heyy, sorry, ich bin heute doch erst später im Café.“ Sie wünscht sich die klaren Verhältnisse aus dem Playroom zurück, in denen sie falsches Verhalten bestraft und gutes belohnt. Sie wünscht sich, dass die Welt nach den Regeln der Göttin funktionieren würde. Sie rutscht in dieser Gedankenspirale so weit, dass sie denkt, alle Männer sollten es sich zur Aufgabe machen, ihr zu ihrer Zufriedenheit zu dienen.

Noch bemerkt sie das. Aber wie viele Sessions noch, bis sie nicht mehr differenzieren kann? Bis die Göttin ihr Wertesystem über den Haufen wirft und sich in ihr breit macht. Ihre Persönlichkeit verändert. Es passiert schon schleichend. Sie wird ungeduldiger. Leichter reizbar. Weniger tolerant für Fehler.

Die meisten Sessions sind allerdings so langweilig, dass sie schon bei der Vorbesprechung aufpassen muss, nicht gedanklich abzuschweifen. Fast alle Kunden wollen das Gleiche. Sie wollen mal so richtig von einer Frau fertig gemacht werden. Zitat. Sie wollen sich mal so richtig erniedrigen lassen (Wäre ja superpeinlich, sich einfach so einer Frau zu unterwerfen!). Limits? Da könnte sie eine Münze werfen. 50% sagen direkt: Kot, Blut und bleibende Schäden. Die anderen 50% sagen, dass sie keine Limits hätten. Sie sagt dann: „Also Kot, Blut und bleibende Schäden okay?“, und die Männer sind peinlich berührt, lächeln manchmal und sagen: „Ah, ne, das ist nicht okay.“

Besonders die, die vorher mit keine Limits anfangen, sind jene, die als erstes klein beigeben. Die Göttin ist für ihre harten Sessions bekannt, so wird sie auch auf der Website beschrieben. Deswegen bekommt sie all die ab, die sich besonders viel zutrauen. In der Regel ist nicht viel dahinter. Ein paar mittlere Peitschenschläge, das Paddel oder leichte Cock-and-Ball-Torture reichen schon aus, um sie zum Weinen zu bringen. So schnell geben sie zwar nicht auf, sind aber schon kurz davor. Sie rechnen nicht damit, überhaupt zu weinen. Schließlich ist die Göttin nur eine Frau, wie könnte sie genug Kraft haben, einen richtigen Mann in die Knie zu zwingen?

Sie duscht sich am Ende des Abends zwar immer, um den Männergestank loszuwerden, ins Schwitzen kommt sie jedoch so gut wie nie. Nur Markus hat sie bisher an ihre Grenzen gebracht. Christina freut sich, wenn sie manchmal schon Mitte der Woche die Nachricht bekommt, dass Markus eine Session gebucht hat. Er ist einer der Wenigen, mit denen sie genau so viel Spaß hat, wie er. Markus geht schon an die 50, gehört aber zu den gepflegtesten und zuverlässigsten Kunden. Er hat viele Interessen, vorrangig bittet er aktuell um Audienzen mit der Göttin. Nicht in allen Sessions muss sie überhaupt Hand anlegen, manchmal reicht es ihm schon, wenn sie nur mit ihrem Sinn von Überlegenheit mit ihm spricht. Er möchte ein niederer Diener sein, ein Spielzeug zu ihrer Vergnügung. Er will keine Rechte haben, nur die Erlaubnis, mit seiner Göttin sprechen zu dürfen. Wenn sie Lust dazu hat, lässt sie ihn dabei ihre Füße massieren.

Markus erlaubte sie vor zwei Jahren, damals als erstem, sie zu berühren. Die Atmosphäre in den Sessions mit ihm ist anders, weil er nicht von ihr erwartet, ein wandelnder Fetischautomat zu sein. Klar, das ist auch ihr Job, aber manchmal gefällt es der Göttin, wenn sie als mehr als nur das gesehen wird. Wenn Markus kommt, konzentriert sie sich auf die Unterhaltung, freut sich darüber, jemanden gefunden zu haben, der ihr ebenbürtig ist. Versucht, für ihn besonders gut zu performen. Justiert dementsprechend den Sadismus auf ein passendes Niveau. Matcht ihre Dominanz mit seiner Unterwerfung.

Er gibt das meiste Trinkgeld, weil er sagt, dass auch das eine Form von Dienen ist und dass er sich ihr gerne vollständig hingeben würde. Die Göttin sagt darauf: „Dafür musst du dich noch weiter bewähren, Diener.“ Christina denkt: „Könnte sogar funktionieren. Aber er ist auch fast 30 Jahre älter.“ Markus versucht nie, nachzuhaken. Er hält ihr jedes Mal die Einladung hin, jedes Mal lehnt sie ab. Jedes Mal kommt er wieder.

Sie wünscht sich, alle Kunden wären wie er. Aber direkt nach Markus erwartet sie wieder einer aus der grauen, unüberschaubaren Masse an Ich-habe-keine-Limits-Typen.

***

Christina ist dankbar, von Montag bis Freitagnachmittag Christina sein zu dürfen. Sie geht in linksgrünversiffte Cafés und trägt Jogginghose mit Hoodie. An der Kasse gibt sie immer viel Trinkgeld, weil sie die Löhne ihrer Freundinnen kennt. Heute ist hinter ihr irgendein Mann in der Schlange, der zu nah an ihr steht und wohl noch nie etwas von personal space gehört hat. Wieder denkt sie daran, wie sie damit umgehen würde.

Die Barista stellt ihr den Iced Latte mit Hafermilch auf die Theke und sagt: „4,90€, bitte.“ Christina kramt im Portemonnaie, als er sagt: „Lassen Sie mich, Göttin.“

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