wenn sie nicht gestorben sind
I – Kër Massar
plötzlich spielt Schönheit wieder eine Rolle
verwandelt die Welt in ein Märchen
Dinge, die niemals an die Öffentlichkeit
dringen sollten: Prinzessinnen, Preise
in Menschengestalt, dein betörender Akzent
die Mägde werden Augen machen, böse
Augen, verheulte verquollene Augen
in deinem wie in meinem Land, und die älteren
Frauen verbergen ihr Begehren hinter Mütterlichkeit
ich werde dich stehlen, du bist wie mein Sohn
ein Spiegel ist zerbrochen, aber vorher
fing es an mit einem Stern
und jemandem, der statt Umarmung
Armut sagte und einen Kuss bekam
da sind viele Bettelleute am Wegrand
die sterben für ein Wort von dir, einen Snap,
einen Videoanruf; und wenn du ein Lächeln
wie Almosen gibst, glauben sie sich
auserkoren – doch nur einer weiß
wie deine Freiheit klingt; allein dein Junge
kennt dein Unterschlagenes, dein gezackter
Junge, der dir
die Erste, die Schönste, die Einzige
ist, (ein Bedürfnis, im Märchen
zu leben) als Dickkopf und Schlawiner
aus einer anderen, einer kälteren Welt
an deren Grenzen man schnell stößt
je mehr die Haut von der Sonne weiß
II – Rue Darou Rahmane
man könnte sagen: dramatische Menschen
haben die Gabe, filmreif zu leben, verlieben
sich an einer Ampel auf den ersten Blick
oder in die Frau, wegen der es Wally Seck
fast nicht gegeben hätte, die aber niemandem
gehören wollte außer mit einem Mal deinem
Vater – was hat er nur mit ihr gemacht?
jedes Märchen schlachtet eine Mutter
mit atemberaubender Schönheit
legt ihr besondere Kinder in den Schoß
und nimmt ihr dann alles, was sie zusammen
gehalten hat – vom Geist bis zu den binbin
deine Mutter redet mit Personen, die sonst
niemand sieht, was gut ist; denn
alle anderen haben sie deshalb verlassen
nur sie liebt weiter
lebt von der Treue des ältesten Sohnes
aus einem Land, das ihn nur duldet,
bis— du wieder dort bist, wo dich jeder
kennt, außer von innen; hier
komme ich ins Spiel, hier treffe ich
meine Angst: Mütter
sind ein weitverbreitetes Märchen
man zählt sie an einer Hand ab
manchmal erwischt man Erinnerung
unerwartetes Französisch
hier sind koloniale Mächte am Werk
hier brennt meine Haut
hier werden meine Gefühle
III – Île de Gorée
jetzt wird’s unromantisch: deine Schönheit verwandelt
die Menschen in lechzende Biester; ihre Augen
vergucken, Hände vergreifen sich: das ist Not, das ist Gier,
das ist der Stoff, aus dem Märchen gesponnen werden: du
riechst immer so gut und jeder will dich haben und
glaubt zu wissen, welchen Preis man zahlt
ich lade dich zum Essen ein
ich nehme dich mit auf Reisen
ich kenne jemanden bei der Botschaft
was wäre ein Märchen ohne Gold,
Verheißung und gespitzte Ohren—die Biester
lauern mit dem Wolfslöffel, wälzen
alte Überzeugungen: ihr wärt alle
gleich, und zwar anders, anima-
lischer, angsteinflößend und schmerz-
frei; Legenden, die bis heute Leben kosten, wärst du nicht
schön, so schön, dass zwar die Biestermäuler tropfen, doch
niemand dich bedrohlich wähnt—während man andere
wie dich in Ketten schlägt: sie sind frei
verstoßen zu werden, verschlagen oder verbrannt –
hinterher wird jemand sagen, das sei nie geschehen, sei
ein Märchen, und verwischt die Spurensicherung
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binbin: westafrikanischer Taillenschmuck, der vor allem von Frauen getragen wird und kulturell mit Themen wie Sinnlichkeit, Schönheit und Weiblichkeit verbunden ist. Traditionell galt das binbin in manchen Regionen auch als Symbol der Fruchtbarkeit und wurde im Rahmen von Partnerschaften oder Eheschließungen getragen. Heute wird es in vielen westafrikanischen Ländern, darunter Senegal, auch als Mode-Accessoire geschätzt. In anderen Regionen ist es unter den Bezeichnungen baya oder afféma bekannt; im Senegal bezeichnet binbin häufig feinperlige Taillenketten, die traditionell von jungen Frauen getragen wurden.