Bahngedanken

Draußen war die Sonne endgültig aufgegangen. Ihr Novemberlicht fiel auf einen der vielen deprimierenden Orte zwischen den Kreisstädten, aus denen die S-Bahn täglich die Azubis aufsammelt und in die nächste Großstadt bringt. Mir gegenüber saß eine hellwach aussehende Frau mittleren Alters mit Kurzhaarschnitt, der höchstens in den frühen 2000ern in war, aber bisher noch kein Comeback gehabt hatte (auf den Wangenknochen vor den Ohren jeweils eine Strähne, oben stachelig, und rot gefärbt). Dazu hatte sie eine metallblaue Brille, eine dunkelblaue Lackdaunenjacke und korallenfarbene Fingernägel, und das alles hielt sie nicht davon ab, eine schwer einzuordnende Sehnsucht in mir auszulösen. Sie hörte ihrem Ende 30-jährigen Arbeitskollegen neben ihr urteilsfrei zu, was ich für eine anerkennenswerte Leistung hielt. Ich hatte mich schon längere Zeit in die Idealisierung dieser Frau reingesteigert und stellte mir vor, wie sie auf ihrem zwei Quadratmeter großen Balkon stand und telefonierend die Geranien goss, zwischen denen ein knallgelber Holzschmetterling mit roten Wangen und Sommersprossen auf einem Stock steckte, der die Schönheit der Blumen fast vernichtete. Susanne hielt mit der einen Hand den schwarzen schnurlosen Festnetztelefonhörer und mit der anderen Hand eine Kaffeetasse, auf der noch immer ein Wandtattoo-Satz in einem Schreibschrift-Font stand, und Peter, der Yorkshire Terrier, steckte sein Köpfchen durch die Geländerstäbe, weil unten auf der Straße zwei Tauben stritten. Nach dem Blumengießen setzte Susanne sich an ihren kleinen Tisch auf ihrem kleinen Balkon, zündete sich mit einem Elektrofeuerzeug von Netto eine Marlboro Gold an und erzählte ihrer besten Freundin Beate von ihrem Arbeitstag, der damit begann, neben Dominik in der S-Bahn zu sitzen, gegenüber einer jungen Frau, die vorgab, aus dem Fenster zu gucken, während sie in Wahrheit Dominiks Geschichten belauschte und Susanne für ihr feinsinniges Schweigen bewunderte.

Wir fuhren am alten Rangierbahnhof vorbei, an Schrebergartenzäunen aus Maschendraht mit den dazugehörigen Deutschland-Flaggen und an geradlinigen Zuckerrübenfeldern, die den gräulichen Horizont preisgaben. Gerade hörte der Regen auf, gegen die Scheibe zu schlagen, als Dominik Susanne „Peggy“ nannte, und ich erschrak. „Nee, Peggy, die hatte uns die Mail einfach zu spät geschickt, wir konnten das gar nicht wissen vorher, die hatte das zu spät geschickt, und sagt mir dann, ich soll besseres Zeitmanagement machen“. Ab und zu sahen Peggys Augen zu mir rüber, aus dem naheliegenden Grund, dass ich sie anstarrte. Im Anschluss an diese kurzen Blicke nahm ich mir jedes Mal vor, damit aufzuhören, aber dieser zur Brille passende metallblaue Lidschatten verlor durch meine Entschlüsse nichts von seiner Anziehungskraft, wo ich doch auch schon die roten Geranien im Hintergrund blühen sah, und das im November. Ich hätte meine komplette Existenz gerne in die Peggys hineingelöst, wäre es möglich gewesen, dass sie mir einen kleinen Platz zwischen ihren Organen einräumt, vielleicht irgendwo hinter den Rippen, nicht weit vom Herzen, da hätte ich mich gerne reingesetzt und hätte sein Klopfen gehört, nichts als sein Klopfen, in das Dominik momentan hineinschrie, doch Peggys Herz schien regelmäßig weiterzuschlagen, kein Fältchen zwischen den geschminkten Brauen. Ich hätte mich dagegen lehnen können, seinen Rhythmus aufsaugend, sein gelassen werdend. Stattdessen sprach Dominik unentwegt, seine Tirade gegen Pauline, die Verfasserin der verspäteten Email, war inzwischen in einen vollständigen Welterklärungsmodus hineingereift. Aus Peggys Rippen gerissen fiel mir Christoph wieder ein.

Ich merke jedes Mal, wenn ich ihn sehe, wie das Blut in meine Wangen und Lippen schießt, soviel Blut, von dem ich überhaupt nicht weiß, wo es auf einmal herkommt, dieses Blut scheint innerhalb von wenigen Sekunden meinen kompletten Schädel und sämtliche meiner Poren auszufüllen; es ist jedes Mal eine regelrechte Gesichtserrektion. Vor Kurzem hatte er die Arme hinterm Kopf verschränkt, sodass ich sie aus einem bisher unbekannten Winkel sehen konnte und außerdem tat sich durch das Anheben der Arme und damit des Sweatshirts ein Spalt zwischen seiner schwarzen Hose und seinem schwarzen Sweatshirt auf, ein hautfarbener Spalt mit Bauchhaut, mit Unterbauchhaut. Ich habe den ganzen restlichen Tag damit verbracht, an diesen Hautspalt zu denken, ich konnte überhaupt nichts weiteres in meine Gedanken hineinkriegen als diesen Hautspalt, und nach jeder Begegnung mit Christoph muss ich nicht nur die Unterhose, sondern gleich die komplette Jeans waschen, weil sie nach Zervix riecht wie ein gerade benutztes Kondom. Das Anschwellen meiner Vulvalippen und Klitoris, die ihre Flügel bis zur Mitte der Oberschenkel auszustrecken schien, war im Sitzen ungemütlich und löste das Bedürfnis aus, meine Knie auseinanderzuschieben, doch gab es keinen Platz für mein linkes Bein, weil jemand neben mir saß, den ich bisher nur am Rande wahrgenommen hatte. Es war so ein –

Ehemann. Ein Mann, der aussah, als hätte sein ganzes Leben auf nichts anderes hinauslaufen können als Ende vierzig und verheiratet zu sein. Das einzig verrückte, was da hätte passieren können, wären vielleicht drei Töchter gewesen anstatt einem Sohn und einer Tochter, oder vielleicht eine Ehefrau, die eine Schnappschildkröte als Haustier hält im Gartenteich, dessen Ufer mit weißen mangoförmigen Steinen gesäumt ist, damit das Teichwasser säuberlich abgetrennt ist vom Rasen, und wenn der weiße Steinrand eine klare Trennlinie zwischen grünem Teichwasser und grünem Rasen bildet, man also beides deutlich voneinander unterscheiden kann, weiß man, dass man bei Leuten ist, die nur hätten heiraten können und sonst nichts. Die meisten Menschen heiraten immer noch irgendwann, aber es gibt Menschen, wo man das Gefühl hat, sie hätten auch ein anderes Schicksal haben können und sie sind nur wegen der normalen widrigen Umstände ein Ehegatte geworden. Dieser hier allerdings trug zu seinem grauen Anzug und blauen Krawatte eine randlose rechteckige Brille und das war alles ernst gemeint. Der goldene Ehering schnitt leicht ins Fleisch, ins leicht rötliche Ehemannfingerfleisch, das ein Handy in einer dunkelbraunen Lederhülle hielt, auf dem ein Artikel der WELT über irgendwelche Tagespolitik zu lesen war. Carsten hatte noch einen Rest weißen Rasierschaums vorm Ohr, wofür ich irgendwie Mitleid empfand, und es gelang ihm, trotz zusammengezogener Augenbrauen einen Ausdruck vollständigen Desinteresses an den Tag zu legen. Mein Bein hatte derweil nicht genug Platz zur Ausdehnung, weil sich Carstens Knie deutlich über der Ritze zwischen unseren Sitzplätzen befand – wäre ich zwanzig Jahre jünger gewesen, ich hätte mein gelb-lilanes Diddl-Lineal rausgeholt, es neben den Rand meines Sitzes gehalten und gesagt: „Hier ist die Grenze!“. Aber als Erwachsene muss man durch den Steinrand im Garten kompensieren wie Carstens Frau Veronika mit ihrer Schnappschildkröte, die sie sich letzten Frühling angeschafft hat, weil Schildkröten keine Haare auf dem Esszimmerteppich hinterlassen. Allein der Gedanke daran, wie Veronika liebevoll und doch ohne Lächeln ihre weißen Gartenteichsteinchen begutachtet, ließ mich mein linkes Bein mit voller Wucht gegen Carstens rechtes drücken, und das gegen meine Neigung, ihn mit keinem Gliedmaß zu berühren – erst recht nicht unter dem mich in mancher Hinsicht beeinflussenden Gefühl meines bis zum Bersten geschwollenen Geschlechtsorgans. Carsten aber sah nicht mal von seinem Smartphone hoch, er blickte weder auf, noch gab sein Bein im Mindesten nach, er blieb sitzen, als wäre der von meinem Bein ausgeübte Druck nicht existent in seinem Ehegatten-Universum, und ich sah Veronika Sonntag abends fünf eigens zusammengeschlagene und in selbst hergestellten Semmelbröseln panierte Kalbschnitzel anbraten und sie mit jeweils einer Zitronenscheibe garnieren und Carsten nicht einmal vom Teller aufsehen, als er vom größten Kalbschnitzel ein Stück abschnitt, sich in den Mund schob, schnell zerkaute und auf Veronikas Frage, wie es denn schmecke, mein Schatz, nur einen Grunzlaut durch seine vor Butter glänzenden Lippen presste, bei dem man sich nicht sicher sein konnte, ob er überhaupt als Sprache gemeint war. Wieso Carsten eigentlich mit der S-Bahn fährt, fragte ich mich im Anschluss, wieso sitzt Carsten denn nicht in seinem silbernen, nach Aftershave und Glattleder riechenden BMW-Kombi und hört die Nachrichten im Radio, wieso sitzt er in der S-Bahn und raubt meinem Bein den Platz? Wahrscheinlich hatte Annika heute morgen ihren Bus verpasst, sodass Veronika sie ausnahmsweise mit dem Auto zur Schule bringen musste, und ihr weinroter Renault war aus unbekannten Gründen nicht angesprungen, weshalb Carsten seinen BMW zur Verfügung zu stellen bereit war, weil der Vollkasko ist, wie er den beiden heute morgen noch witzelnd durchs Beifahrerfenster gesagt hatte, Vollkasko für meine Ladies, und wahrscheinlich war Veronika im Gegensatz zu ihm nicht durch die erste praktische Fahrprüfung gefallen, weil sie nunmal eine sehr umsichtige Person ist, bei deren blondiertem Haar man einen grauen Haaransatz zu keiner Zeit auch nur erahnen kann. Carstens Starrheit und meine Unlust auf seine Nähe brachten mich schließlich dazu, mein Bein wieder zu mir zurückzuholen, die Vulvalippen schlossen sich in der Unterhose zu einer zivilisierten Nektarine, die Klitoris war beim Gedanken daran, wie Carsten Schnitzel kaut, ohnehin in sich zusammen geschrumpelt, und so verblieb bloß die Empfindung des inzwischen kaltnassen Baumwollstoffs auf meiner Haut, als einziger Rest meiner Morgengedanken.


Charlotte Döhrmann arbeitet als Autorin, Moderatorin und Literaturvermittlerin in Heidelberg. Sie wurde 1991 in Frankfurt a.M. geboren und wuchs in Münster (Westf.) auf. Nach dem Studium der Philosophie & Literaturwissenschaft unterrichtete sie Philosophie an der Uni Heidelberg und publizierte zu queerfeministischer Erkenntnistheorie. Von 2021-2024 Mitglied der Jury des Heidelberger Autor:innenpreises. 2024 gründete sie das Literaturmagazin Pigeon Publishing, für das sie als Redakteurin arbeitet und Lesungen veranstaltet. Sie schreibt Lyrik, Prosa und politische Essays, Themenschwerpunkte sind die Kritik des Bürgerlichen aus linker & queerfeministischer Sicht und die Entwicklung utopischer Perspektiven. Literarische Veröffentlichungen bisher in Literaturmagazinen und Anthologien. 2024 wurde sie als Vertreterin der Unesco City of Literature Heidelberg für die „Expedition Poesie“ nach Jakarta eingeladen, wo ihre Gedichte ins Indonesische übersetzt wurden. Februar/März 2025 war sie Stipendiatin auf dem 11. Wintercampus der Künstlerstadt Kalbe.

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